Den Schwachen Recht verschaffen

01. Januar 1900 | von

Hammurapi, der König, der vollkommene, bin ich. ... Die Menschen ließ ich wohnen in geschützten Stätten, einen, der sie aufscheuchte, ließ ich nicht über sie kommen. Mein guter Schatten ruht über meine Stadt gebreitet, in meinem Schoß habe ich die Menschen des Landes Sumer und Akkad genommen. Eine Selbstdarstellung mir wohlklingenden Worten, die der bekannteste Herrscher der altbabylonischen Zeit (ca. 2000 bis 1600 v. Chr.), König Hammurapi, unter seine Gesetzessammlung schreiben ließ. Damit entsprach er ganz dem Stil seiner Zeit. Vielleicht ist manchem der Kodex Hammurapi noch flüchtig aus dem Geschichtsunterricht bekannt.

Sorge um die Schwachen. Wie auch viele andere Königsschriften dieser Epoche bezeugen, gehörte die Sorge um die Schwachen, die Witwen und Waisen zur Aufgabe der Herrschenden. Auf der Gesetzesstele heißt es in poetischen Worten: Mit meinem Schutzgott sorge ich für Frieden, berge ich sie in meines Wissens Tiefe. Vom Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen, der Witwe, der Waise Recht zu verschaffen, habe ich in Babylon ... meine köstlichen Worte auf meine Stele geschrieben und vor meinem Bildnis als König der Gerechtigkeit festgelegt.
Tausende von Tontafeln der altbabylonischen Zeit gewähren einen Einblick in den Alltag der Menschen vor fast 4000 Jahren. Sie enthalten Briefe oder Urkunden, in denen Eheverträge, Erbschaften, Landverkäufe, Darlehen geregelt werden. Auch wenn eine Zusammenschau dieser vielen tausend Dokumente schwierig ist, läßt sich doch aus ihnen soviel erkennen, daß die altbabylonische Epoche eine Übergangszeit war.

Faire Sozialpolitik. In diesem Zeitraum verarmten auf der einen Seite die kleinen und mittleren Landbesitzer, während auf der anderen Seite Großgrundbesitzer und hohe Funktionäre sich zunehmend bereicherten.
Dieser Verarmung breiter Bevölkerungsschichten versuchten die Herrscher durch Nachlaßedikte gegenzusteuern, in denen die Vereinbarungen ausgehandelter Verträge annulliert wurden. Verkaufte Güter mußten zurückgegeben werden; wer wegen Verschuldung in Sklaverei geraten war, wurde freigelassen; Kredite waren nicht mehr zurückzuzahlen.

Diese Nachlaßedikte können mit voller Berechtigung als eine sozialpolitische Maßnahme zugunsten der schwächsten Bevölkerungsschichten bezeichnet werden.
Wie diese Edikte konkret durchgeführt wurden, läßt sich nicht mehr genau feststellen. Daß sie aber Wirkung zeigten und Bedeutung besaßen, läßt sich an zwei Fakten aufzeigen. Da sind zunächst einmal die Jahresnamen zu nennen. Um ein Jahr von den anderen Jahren zu unterscheiden, wurde das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahres in einem kurzen Satz zusammengefaßt. Militärische Siege, Baumaßnahmen (Tempel, Stadtmauern, Kanäle), aber auch Nachlaßedikte werden in Jahresnamen festgehalten.

Keine leere Propaganda. Jahr, in dem Hammurapi in seinem Land die gerechte Ordnung wieder herstellte, lautet beispielsweise der Jahresname des zweiten Herrschaftsjahres dieses Königs. Von ihm und anderen Herrschern der altbabylonischen Zeit sind ungefähr zwanzig Jahresnamen dieses Typs belegt. Das für die Geschichtsforschung Interessante dieser Bezeichnungen liegt darin, daß sie keine propagandistische Absicht verfolgten, sondern eine Verwaltungsmaßnahme darstellten. Das beschriebene Ereignis hatte tatsächlich stattgefunden und war im öffentlichen Leben des Landes von Bedeutung gewesen. Die Jahresnamen sind also ein eindeutiges Zeugnis, daß ein Nachlaßedikt in einem Herrschaftsgebiet tatsächlich durchgeführt worden war.
Daß diese Nachlaßedikte Auswirkungen hatten, wird zweitens durch die Gegenreaktionen der Mächtigen belegt. Sie versuchten, die Anweisungen der königlichen Nachlaßedikte zu unterlaufen.

Krumme Tour. So wurden die Verkäufe als Adoptionen verschleiert: Ein Reicher, der ein Grundstück erwerben wollte, ließ sich vom Verkäufer adoptieren; der Preis war dann eine Leibrente für die Eltern und das erworbene Gut nichts anderes als das zustehende Erbteil. So ist in Dokumenten aus Nuzi, einer Stadt nördlich von Babylon, der Fall des Tehip-tilla, eines hohen Palastbeamten, belegt, der ungefähr hundert Mal von verschiedenen Vätern adoptiert worden war, und auf diese Weise zu einem riesigen Grundbesitz kam. Eine andere Gegenreaktion waren Klauseln in Verträgen, die deren Gültigkeit abzusichern suchten. Eine solche lautet auf einer Tontafel aus Nuzi: Diese Tafel ist geschrieben worden am Tor von Nuzi nach der Proklamation des königlichen Nachlaßedikts. Da der Vertrag nach der Promulgation des Nachlaßedikts abgeschlossen worden war, hatte dieses keine Auswirkung auf ihn.

Wirksame Maßnahme. Die Jahresnamen wie die Gegenreaktionen der Mächtigen belegen die Existenz und die Wirksamkeit der Nachlaßedikte. Für eine geraume Zeit konnten die Herrscher mit dieser sozialpolitischen Maßnahme die Verarmung größerer Bevölkerungsschichten aufhalten. In der eingangs zitierten Inschrift des Hammurapi steckt eine gehörige Portion Eigenlob, doch hat er seinen Worten in den Nachlaßedikten auch Taten folgen lassen.

Hinweis: Das Thema wird ausführlich behandelt in dem Buch Das Jobeljahr im Wandel, das unser Autor Georg Scheuermann im Frühjahr 2000 beim Echter-Verlag Würzburg herausgeben wird.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016