Der entzifferte Mensch

02. November 2020 | von

Der Mensch ist sich selbst oft ein Rätsel. Immer mehr menschliche Rätsel können mit wissenschaftlichen Methoden aber entziffert werden. Damit ergeben sich neue Möglichkeiten, Heilungschancen für Krankheiten, aber auch etliche Problemstellungen: Will (und darf) man wirklich alles wissen? 

Eine Jugenderinnerung: Irgendwann geriet ich an ein kleines Büchlein „Die Wahrheit aus der Hand lesen – selbst gemacht.“ Die Einleitung versprach, dass man nach der Lektüre der folgenden Seiten aus den Linien, die sich offensichtlich auf jeder Hand befinden, genauer über den künftigen Verlauf seines Lebens Bescheid wissen würde. Aus den Handlinien ließen sich künftige Krankheiten und Katastrophen ebenso ablesen wie die voraussichtliche Länge des eigenen Lebens. Ich muss gestehen: Irgendwie hat mich diese Ankündigung gereizt. Und dennoch ist das Büchlein am Ende ungelesen im Müll gelandet. Es erschien mir doch zu riskant, ganz abgesehen davon, dass ich doch ziemlich massive Zweifel daran habe, dass man solche Lebensereignisse tatsächlich aus der Hand lesen kann (geschweige denn soll). Und als nicht-professioneller Hobbywahrsager wollte ich obendrein auch gar nicht wirklich wissen, wann ich einmal sterbe. 

Recht auf Nichtwissen!
Dass man über das Leben und seine Zusammenhänge aber auf fundierter wissenschaftlicher Ebene deutlich mehr erfahren kann, als mir bewusst war, habe ich während des Theologie-Studiums in der Moraltheologie erfahren. Ausführlich haben wir uns damals mit der sogenannten Pränataldiagnostik befasst, also einer vorgeburtlichen genetischen Untersuchung des Embryos, um eventuell vorliegende Krankheiten bereits frühzeitig zu erkennen. In meiner damaligen Mitschrift habe ich die folgende Notiz gefunden: „Diese Methoden werden sich in Zukunft ausweiten; es lassen sich nicht nur monogenetisch bedingte Krankheiten feststellen, sondern auch Anlagen zu nur möglichen Krankheiten und Dispositionen zu erst später im Leben sicher auftretenden Krankheiten.“
Freilich ergeben sich schon für die Pränataldiagnostik ernsthafte, mitunter kaum wirklich gut zu lösende Probleme: Was tun, wenn eine Krankheit festgestellt wird? Auf manche Krankheiten kann man sich als Eltern innerlich einstellen, einiges wenige lässt sich therapeutisch oder präventiv behandeln. Aber im Allgemeinen wird die Kluft zwischen der Möglichkeit einer Diagnose und der Möglichkeit einer Therapie immer größer: Vieles kann erkannt, aber nur weniges geheilt werden. Was tun, wenn man dann vielleicht sogar gesellschaftlich zu einem Schwangerschaftsabbruch gedrängt wird, um „behindertes Leben“ zu „verhindern“?
Mein damaliger Professor hat für das „Recht auf Nichtwissen“ plädiert. Man könne sich den modernen medizinischen Methoden zumindest auf Dauer nicht verschließen, es müsse aber jeder Mensch das Recht haben, solche medizinisch machbaren Diagnosen eben auch nicht zu wissen. 

Die Sprache Gottes?
Dass der Mensch trotzdem zugleich neugierig ist auf seinen eigenen „Bauplan“, war vor mittlerweile 20 Jahren im Weißen Haus beispielhaft spürbar. Am 26. Juni 2000 verkündete der damalige US-Präsident Bill Clinton: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben schuf.“ Anlass war die Veröffentlichung von ersten Fassungen des menschlichen Erbguts als Frucht eines öffentlich geförderten Genom-Projekts. 
Dabei geht es darum, die etwa 3,2 Milliarden biochemischen DNA-Basenpaare mit den vier Bausteinen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin in ihrem Zusammenspiel und ihrer Abfolge zu entschlüsseln. Gemeinhin wird heute angenommen, dass von diesen Milliarden Bausteinen nur etwa 20.000 Gene verantwortlich sind dafür, dass der Mensch ist wie er ist. Das heißt dann auch: Zu 99% sind Menschen genetisch identisch. Für die Unterschiede zwischen Menschen sind zu 90% „Snips“ verantwortlich, also Abweichungen einzelner genetischer „Buchstaben“. 

Entschlüsseltes Erbgut
Sieben Jahre nach Bill Clintons Ankündigung im Weißen Haus stellte der US-Wissenschaftler und Unternehmer Craig Venter am 27. Juni 2007 sein komplettes Genom online. Die Entschlüsselung seines „Bauplans“ ließ er sich 30 Millionen Dollar kosten. – Initiativen wie das „1.000-Genome-Projekt“ haben in den letzten Jahren versucht, diese Kosten kontinuierlich zu senken. Je mehr Menschen ihr Erbgut sequenzieren lassen, desto umfangreicher wird der „Katalog“ menschlicher genetischer Variationen. Ist erst einmal genug Grundlagenforschung betrieben, so können Genome schneller und deutlich kostengünstiger entschlüsselt werden. In den Niederlanden gibt es die Sequenzierung bereits für € 1.500,00. 
Deutschland hinkt Ländern wie den USA, England oder den Niederlanden deutlich hinterher. Die Konrad-Adenauer-Stiftung bezeichnet die Bundesrepublik gar als „genommedizinisches Entwicklungsland“. Nur nach einem sehr komplexen Antragsverfahren darf eine Sequenzierung vorgenommen werden – und die auch nur für eine sehr begrenzte Anzahl von Basenpaaren. 

Wirkliche Hilfe
Was aber hat man nun von der Entschlüsselung des eigenen Erbguts? Profitieren können unter anderem Menschen mit einer sogenannten „seltenen Krankheit“. Bis eine solche entdeckt wird, sind oft unzählige Arztbesuche nötig, weil die Krankheit eben – da selten und für die Pharmaindustrie damit weniger lukrativ – nur wenig erforscht ist. Weil bei etwa 80% dieser seltenen Krankheiten nur ein einzelnes Gen defekt ist, ließe sich dieses am genetischen Bauplan schnell erkennen und zumindest wäre eine sichere Diagnose deutlich schneller gestellt. 
Auch in der Tumorforschung verspricht man sich Fortschritte. Hier setzt man immer mehr auf eine „zielgerichtete Therapie“: Sogenannte „Biomarker“ weisen auf wichtige Eigenschaften des jeweiligen Tumors hin. Je besser man den Tumor kennt und auch weitere Zusammenhänge im Organismus berücksichtigen kann, desto wirksamer kann die Therapie angepasst werden. 
Und darüber hinaus hilft die Genom-Entschlüsselung auch in der gegenwärtigen Corona-Pandemie. Innerhalb von Minuten war das Virus genetisch entschlüsselt – der erste Schritt auf dem Weg zu „Corona-Tests“ und schließlich der Impfstoffentwicklung.
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist heute binnen weniger Tage verfügbar. Freilich steht man auch dann noch vor der Herausforderung, aus dem entschlüsselten Erbgutmaterial Zusammenhänge zu finden und zu erklären, hat dann aber mit Hilfe eines „digitalen Zwillings“ auch noch die Chance, mögliche Medikamente vorab in einer Simulation auf mögliche Wirkung und Nebenwirkung zu testen. 

Risikoabwägung mit Konsequenzen
Wäre es nicht das Gebot der Stunde: Volle Kraft voraus?! Ließe sich damit nicht nur menschliches Leid reduzieren, Leben verlängern und Geld sparen? Die Schauspielerin Angelina Jolie hat vor einigen Jahren für Aufsehen gesorgt. Ihre Mutter starb mit 56 Jahren an Krebs. Eine genetische Analyse brachte zu Tage, dass Angelina Jolie das BRCA1-Gen in sich trägt – ein Gen, das die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, um 80% erhöht. Die Amerikanerin hat sich daraufhin dafür entschieden, sich beide Brüste entfernen zu lassen – eine prophylaktische Entscheidung, um eine mögliche spätere Erkrankung an Brustkrebs zu verhindern. 
Dem einen mag diese Maßnahme als sinnvolle Risikoabwägung erscheinen und eine Methode, einer Krankheit aus dem Weg zu gehen. Ein anderer fürchtet vielleicht einen gesellschaftlich immer stärker werdenden Druck, sich testen zu lassen – mit mitunter weitreichenden Konsequenzen, wenn das „Recht auf Nichtwissen“ vielleicht längst keine Rolle mehr spielt. Denn: Wie gehe ich mit einem Wissen von einer möglichen Erkrankung um, gegen die ich nichts machen kann? 

Schlechte Aussichten?
Zu den genetisch nachweisbaren und irgendwann im Lauf des Lebens auftretenden Krankheiten gehört beispielsweise Chorea Huntington („Veitstanz“). Die Symptome dieser erblichen Erkrankung des Gehirns treten meist im Alter von 40 Jahren auf: Psychische Beschwerden im Bereich von Affekt und Motivation, der zunehmende Verlust kognitiver Fähigkeiten, ungewollte Bewegungen, eine stets fortschreitende Einschränkung der Bewegungsfähigkeit und Schluckstörungen – all das führt im Schnitt nach etwa 15 Jahren zum Tod. 
Auch Mukoviszidose als erbliche Stoffwechselerkrankung lässt sich durch Genom-Entschlüsselung „vorhersagen“. Eine Veränderung des CFTR-Gens mit seinen ca. 6.500 Basenpaaren, bei denen sich überall und dann mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen der Fehler einschleichen kann, führt zu Atemproblemen, Reizhusten, häufigen Lungeninfekten, Verdauungsstörungen, einer verminderten Fruchtbarkeit und einer insgesamt verkürzten Lebenserwartung.
Jenseits des rein Objektiven: Eine Mutter hat mir vor einiger Zeit berichtet, man hätte ihr bzw. ihrer Tochter während der Schwangerschaft Mukoviszidose diagnostiziert. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland im Rahmen der medizinischen Indikation dann straffrei. Die gläubige Frau hat sich dagegen entschieden – und ihre Tochter ist gesund geboren und geblieben. – Gewiss: Einzelbeispiele lassen sich nicht auf „die Masse“ übertragen, aber sie machen in solchen Fällen doch deutlich, wie schnell Fragen nach dem „entzifferten Menschen“ existenziell werden können und vor welchem Dilemma man mitunter steht, zumal es für die meisten genetisch diagnostizierten Krankheiten eben keine wirksame Behandlung mit Aussicht auf Heilung gibt. 

Diagnose mit Ungewissheit
Was würde ich beispielsweise tun, wenn man mir heute diagnostizieren würde, dass ich irgendwann an Alzheimer erkranke – und eigentlich gar nicht wirklich etwas dagegen tun kann? Würde es mir schon jetzt die Lebensfreude nehmen? Oder würde ich versuchen, in mein „Heute“ so viel Leben wie möglich zu packen? Würde ich vielleicht irgendwann über Wege nachdenken – ganz gegen meine gläubige Überzeugung –, früher und „selbst gewählt“ aus dem Leben zu scheiden, um mir ein langes Siechtum zu ersparen?
Vielleicht würde dabei dann auch ein gesellschaftlicher Druck ausgeübt. Denn schon jetzt gibt Deutschland mehr als 10% des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. Der Kostendruck wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch weiter steigen. Im Jahr 2003 hat Philipp Mißfelder (1979-2015), CDU, mit seinem Vorschlag zur Verbesserung der finanziellen Basis des Gesundheitssystems noch für Empörung gesorgt: „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“ Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen. Wäre es nicht mehr als wahrscheinlich, dass in Zukunft bei vielen Krankheiten entweder die Krankenkasse die Versicherung ablehnt oder einfach nicht mehr zahlt? Denn: Man hätte es ja wissen – und auch entsprechend verhindern können. Vorgeburtliche Gentests auf Zypern und in Nordamerika haben die Häufigkeit der Erkrankungen an Beta-Thalassämie bzw. dem Tay-Sach-Syndrom gezeigt – allerdings immer im Zusammenhang mit in der Folge durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen. 

Wehret den Anfängen!
Es deutet alles darauf hin, dass diagnostische Möglichkeiten künftig nicht nur noch besser, sondern auch deutlich günstiger werden. Das wird Menschen das Leben erleichtern – es aber bisweilen auch komplizierter machen. Immer wieder werden wir in Dilemma-Situationen stecken: Was ist nun das Richtige? Wofür oder wogegen soll ich mich entscheiden? 
Der einzelne Mensch wird gegen einen wissenschaftlichen Fortschritt kaum etwas tun können. Umso mehr wird gelten, sich schon jetzt mit Nachdruck für das „Recht auf Nichtwissen“ einzusetzen und Überwachungssysteme wie z. B. das in China zu Testphasen eingeführte „Social Scoring“-System deutlich zu kritisieren. Dort werden Punkte für beispielsweise Zahlungsfähigkeit und persönliches Verhalten gesammelt (oder verloren). Wer ins „Minus“ fällt, dem drohen Reisebeschränkungen, Behinderung seiner Karriere, Drosselung der Internetgeschwindigkeit oder höhere Steuern. Wenn in einem solchen System dann auch Gesundheitsdaten verhandelt werden, ist der gesellschaftlich-staatliche Druck beim Einzelnen vollends angekommen. Dann verfügen andere über das kostbare Gut meines Lebens, wohl oft auch vor dem Hintergrund rein wirtschaftlich-nutzenorientierter Interessen. 
Was mir wieder neu aufgegangen ist: Auch jenseits genetischer Tests und damit verbundener Krankheitsprognosen kann ich etwas zum Erhalt meiner Gesundheit beitragen – gesunde Ernährung, mehr Sport, weniger Alkohol. Das fällt oft schwer genug… 
 

Zuletzt aktualisiert: 04. November 2020
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