Die Retter vom Mittelmeer

17. Juli 2018 | von

Aus dem italienischen Messaggero haben wir einen Beitrag über Rettungsaktionen für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer übernommen. Eine menschliche Tragödie, die noch nicht überstanden ist − Schicksale, die nachdenklich machen.

Metallisch kratzend kommt eine kurze Meldung über Funk: „Ein Holzboot ist am Abtreiben. An Bord befinden sich circa 30 Flüchtlinge. Ihr müsst eingreifen!“ Der Funkspruch zerreißt die Ruhe auf der Kommandobrücke der Aquarius. Das Mittelmeer ist aufgewühlt, wir befinden uns ungefähr zwanzig Meilen vor der Küste Libyens.
„Diese Nachricht kommt aus Rom, vom italienischen Zentrum für die Koordination von Seenotrettung,“ erklärt mir Klaus Merkle, der Koordinator der Rettungsmannschaft von SOS Mediterranée. Die europäische Nicht-Regierungs-Organisation hat dieses Schiff zusammen mit Ärzte ohne Grenzen angemietet. Es ist eines der wenigen Schiffe, die übriggeblieben sind, um diejenigen zu retten, die von Afrika aus auf Booten versuchen, Italien und Europa zu erreichen.

Unterkühlt und ausgehungert
„Wir müssen in Aktion treten,“ sagt Klaus und zeigt mir auf einer Seekarte die Ölplattform Sabratha. Dort ist schon das italienische Schiff Asso Ventiquattro angekommen und hat die Flüchtlinge, die sich auf dem Boot befanden, mit dem sie aus Libyen aufgebrochen waren, an Bord genommen. Es sind insgesamt 27 Menschen, darunter zwei Frauen. Die meisten stammen aus Somalia, aber es sind auch Kameruner, Senegalesen, Sudanesen und Nigerianer dabei.
Das Team von SOS Mediterranée bringt sie mit schnellen Schlauchbooten an Bord der Aquarius. Zuerst die beiden Frauen. Sie können sich vor Müdigkeit und wegen der Unterkühlung kaum auf den Beinen halten. Die Mediziner von Ärzte ohne Grenzen helfen ihnen, die Schwimmwesten auszuziehen und begleiten sie ins Bordkrankenhaus. In der Zwischenzeit verteilen die Helfer trockene Kleidung, Decken, etwas zu essen und Saft. 
„16 Jahre, aus Somalia, ein Minderjähriger,“ informiert der tunesische Übersetzer Moez Ben Salem. Die Somalier sind alle noch sehr jung. In der Gruppe sind sechs unbegleitete Minderjährige. Kadir aus Mogadischu hat eine deutliche Verletzung unter dem Kinn. „Ich bin gestolpert, als wir losgefahren sind, und mit dem Gesicht auf den Holzboden des Bootes gefallen,“ erklärt er. Auch Mohamed kommt aus der somalischen Hauptstadt. Er ist 20 Jahre alt, hat aber schon Frau und Tochter, die in Frankreich auf ihn warten. 

Flucht vor der Perspektivlosigkeit
An einer Wand in einem der Gänge auf der Aquarius hängt eine Landkarte von Afrika. „Ich komme von hier,“ sagt ein Jugendlicher, während er mit breitem Lächeln auf einen Ort in Kamerun deutet. Er heißt Lionel und möchte nach Neapel, wo seine Schwester auf ihn wartet. Er ist 24 Jahre alt und hat es geschafft, Afrika zu verlassen, nachdem er die Asma Boys, Schlepper und Rebellen aus Westlibyen, bezahlt hat. Er erzählt, halb auf Französisch, halb auf Englisch: „Ich bin im Süden des Landes geboren, aber an der Grenze zu 
Nigeria aufgewachsen. Dort gibt es keine Arbeit und große Probleme zwischen den anglophonen und den frankophonen Menschen. Letzten Sommer habe ich beschlossen, wegzugehen. Und vielleicht habe ich es geschafft. Aber die Reise durch die Wüste war sehr hart. Nach einem Tag hatten wir kein Wasser mehr. Ich habe zwei weitere Tage fast ganz ohne zu trinken verbracht.“ Schließlich erreicht er Libyen von Westen her. Dort kommt er ins Gefängnis in der Nähe von Zawiya. „Dort war ich fast einen Monat, wir wurden viel geschlagen. Zu essen gab man uns ein wenig Brot, Käse und Nudeln, das musste den ganzen Tag reichen. Im Essen waren Schlafmittel. Man muss 250 Euro bezahlen, um da heraus zu kommen.“

Ankunft im gelobten Land
Die Nacht auf der Aquarius ist angespannt. Das Schiff nimmt Kurs auf Sizilien; die Wellen sind fast zwei Meter hoch. Die Flüchtlinge sind erschöpft. Einige sind seekrank. Sie schlafen dicht aneinandergedrängt auf dem überdachten Deck. Im Morgengrauen erwachen sie – das erste Mal seit Monaten wartet kein neuer Albtraum auf sie. Hungrig verspeisen sie das Frühstück aus Brötchen, Müsliriegeln und warmem Tee. 
„Ist das Italien?“ Stanley, Nigerianer, zeigt auf einen grünen Streifen am Horizont. Langsam zeichnet sich der Hafen von Pozzallo ab. Man erkennt die Landungsstege, die Straßen. „Ja, wir sind fast da, macht euch fertig,“ antwortet Luca Salerno, der Leiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen. Die angespannten Gesichtszüge verwandeln sich in ein kollektives Lächeln. „Boza!“ rufen sie im Chor. Das ist ein Wort, das die Flüchtlinge aus dem Subsahara-Gebiet erfunden haben. Vier Buchstaben, die für den Triumph stehen. Ein Motto, das nur einmal gerufen wird, und zwar bei der Ankunft, wenn man das Ziel endlich erreicht hat. „Gott sei Dank sind wir in Italien,“ sagt Seku aus dem Senegal. „Endlich ist das Leid vorbei. Das ist das gelobte Land. Ich möchte eure Sprache lernen und eine Arbeit finden. Ab jetzt möchte ich ruhig leben, mehr will ich gar nicht.“  

Ein Albtraum – und dann?
„Es ist das Ende eines Albtraums, der fast eineinhalb Jahre gedauert hat,“ sagt Nour aus Somalia. Er ist noch zu jung für einen richtigen Bart und trägt das gelbe Armband, das ihn als Minderjährigen kennzeichnet. Er ist gerademal 16. Aus Mogadischu ist er 2015 geflüchtet. „Ich war in drei verschiedenen Gefängnissen,“ erzählt er, „in Bani Walid, in Tripolis und in Zawiya. Ich wurde bestohlen und geschlagen. Alles Geld, das ich hatte, haben sich die Gefängniswärter genommen.“  
Am Hafen steht schon das Personal vom Roten Kreuz und vom Gesundheitsamt bereit. Sie gehen an Bord, untersuchen und registrieren die Passgiere. Das Schiff ist technisch gesehen in Quarantäne. Die gelbe Fahne wird nach dem OK des Arztes vom Gesundheitsamt eingeholt. Die Flüchtlinge gehen in einer Reihe über die Gangway, die sie vom Festland trennt. Seku fällt auf die Knie und küsst den Boden. „Wo bringen sie uns jetzt hin?“ fragt er sich. Die Antwort und ein richtiges Bett warten ein paar hundert Meter weiter auf ihn. Was die Zukunft bringt? Er wird es sehen...

Zuletzt aktualisiert: 17. Juli 2018
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