Die Spur des Galiläers
Zu Betlehem geboren ist uns ein Kindelein
Forscher und Fakten. Vor ungefähr 250 Jahren begann in der Zeit der Aufklärung die historische Forschung auch in die Theologie Einzug zu halten. Die Unterscheidung zwischen dem Christusglauben der Apostel und dem, was Jesus historisch gesagt und getan hat, begegnet zum ersten Mal bei Hermann Samuel Reimarus (1694-1768). Sein Werk wurde erst nach seinem Tod durch Lessing anonym veröffentlicht. Reimarus selbst schrieb den Evangelien eine hohe Glaubwürdigkeit zu. In ihnen begegnete ihm der historische Jesus, in den Briefen der Apostel dagegen der Christus des Glaubens. Forscher nach Reimarus konnten aufzeigen, dass diese grundlegende Unterscheidung zwischen historischem Jesus und Christus des Glaubens auch die Evangelien prägt. Dabei setzte sich eine Erkenntnis durch: Das Osterereignis lässt die ersten Christen das, was Jesus getan und gesagt hat, in einem neuen Licht sehen. Alle christlichen Schriften entstehen, um den Glauben an Jesus als den Christus, den Sohn Gottes (vgl. Mk 1,1) zu wecken und weiterzugeben. Um es in einem Bild zu beschreiben: Der historische Jesus ist dabei durch den Christus des Glaubens übermalt worden.
Annalen des Tacitus. Es gehört zu den Grundsätzen der modernen Geschichtswissenschaften, sich über die Quellen Rechenschaft zu geben. Und für viele Gläubige ist es neu, dass es neben dem NT noch weitere Quellen zum Leben Jesu gibt. Da sind zum einen die außerchristlichen Quellen, zumeist nur kurze Notizen. Das bedeutendste Zeugnis unter den römischen Schriftstellern ist eine Notiz in den Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus (55/56-120 n.Chr.). Er hat dieses Werk in seinen letzten Lebensjahren (116/117) verfasst. Im Zusammenhang mit dem Brand Roms in der Regierungszeit des Nero kommt Tacitus auf Christus zu sprechen:
Also schob Nero die Schuld auf andere und bestrafte sie mit den ausgesuchtesten Martern. Es waren jene Leute, die das Volk wegen ihrer (angeblichen) Schandtaten hasste und mit dem Namen Christen belegte. Dieser Name stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Dieser verderbliche Aberglaube war für den Augenblick unterdrückt worden, trat aber später wieder hervor und verbreitete sich nicht nur in Judäa, wo er aufgekommen war, sondern auch in Rom, wo alle Gräuel und Abscheulichkeiten der ganzen Welt zusammenströmen und geübt werden (Ann 15, § 44).
An dieser Notiz des Tacitus sind von besonderem Interesse: Er verwendet den Titel Christus wie einen Eigennamen, er weiß um den gewaltsamen Tod Jesu unter Pontius Pilatus und von der Ausbreitung dieses Aberglaubens von Judäa bis Rom.
Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freude die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tag wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort (Ant 18, §63f).
Authentisch oder ergänzt? Dieser Text, das so genannte Testimonium Flavianum, spricht sehr positiv über Jesus. Er könnte aus der Feder eines Christen stammen. Und dieser Verdacht wird seit dem 16. Jh. diskutiert. Ein Teil der Forscher erachtet den gesamten Text als eine spätere Einfügung in das Werk des Josephus, andere verteidigen die Echtheit dieser Notiz aus der Feder des jüdischen Historikers. Die Lösung liegt wohl in der Mitte: Die ursprünglich von Josephus verfasste Notiz wurde von christlicher Hand überarbeitet (die überarbeiteten Passagen sind kursiv gesetzt).
Die Nachricht des Josephus über Jesus stellt ihn als weisen Menschen und Lehrer vor. Sie weiß um seinen Kreuzestod unter Pilatus und um die Beteiligung der jüdischen Aristokratie an dieser Verurteilung. Anhänger Jesu leben noch zur Abfassungszeit des Textes. Da Josephus sein Werk in Rom schreibt, könnte die Notiz vom Weiterbestehen der Anhänger Jesu auf das Wissen um die christlichen Hausgemeinden in Rom zurückgehen.
Die Auswertung der wenigen außerchristlichen Nachrichten ergibt: Jesus war eine historische Persönlichkeit; in keiner Quelle wird sein historisches Auftreten angezweifelt. Sein Tod am Kreuz unter Pilatus wird historisch präzise überliefert. Er wird als Gründerfigur der Bewegung der Christen bezeichnet, die sich schon bis Rom ausgebreitet hat.
Apokryphe Aussagen. Weitere Nachrichten sind uns nur durch christliche Quellen überliefert. Vertraut sind die Schriften, die im Neuen Testamentes überliefert sind. Weniger bekannt ist, dass es noch eine Fülle weiterer christlicher Schriften gibt, die nicht in das Neue Testament Aufnahme gefunden haben. Sie werden apokryphe Schriften genannt. Zumeist sind sie erst im 2. und 3. Jh. n.Chr. entstanden. Zwei apokryphe Evangelien sollen erwähnt werden, da sie in der biblischen Forschung zunehmend berücksichtigt werden. Im Thomasevangelium werden 114 Jesusworte überliefert, manchmal im Rahmen eines kurzen Gesprächs. Ungefähr die Hälfte der überlieferten Jesusworte begegnet in ähnlicher Form auch in den kanonischen Evangelien. Das Evangelium nach Petrus enthält dagegen einen Bericht über den Prozess gegen Jesu, seine Passion und Auferstehung. Beide Evangelien dürften um das Jahr 130 n.Chr. entstanden sein.
Spurensuche. Die außerchristlichen Quellen und die apokryphen christlichen Schriften können die kanonischen Evangelien allenfalls ergänzen. Der bekannte Neutestamentler Joachim Gnilka schreibt: Wir können davon ausgehen, dass uns in den Evangelien die entscheidenden und für unseren Glauben bemerkenswerten Seiten des Wirkens und Redens Jesu erhalten geblieben sind. Um in den Evangelien die Spuren des historischen Jesus zu finden, hat die neutestamentliche Wissenschaft Kriterien aufgestellt. Grundlegende Impulse setzte der evangelische Forscher Ernst Käsemann in seinem 1953 gehaltenen Vortrag „Das Problem des historischen Jesus. Am bekanntesten, aber auch am umstrittensten ist sein strengstes Kriterium, das der doppelten Unähnlichkeit: Was weder aus dem Judentum der Zeit Jesu abgeleitet noch den ersten christlichen Gemeinden zugeschrieben werden kann, das ist am sichersten ein echtes Wort Jesu. Käsemann löste durch seinen Beitrag eine intensive Debatte aus. Denn als ein Mensch seiner Zeit war Jesus in seine Religion, das Judentum, eingebunden. Und die Forschung hat gerade in den letzten Jahrzehnten die Kenntnisse um das Judentum der Zeit Jesu deutlich erweitern können.
Skizzen des historischen Jesus. Die Ergebnisse der Suche nach dem historischen Jesus füllen Bibliotheksregale. Im Rahmen dieses Artikels können nur einige wenige Ergebnisse angedeutet werden.
– Jesus und der Täufer Johannes: Übereinstimmend berichten die Evangelien, dass Jesus sich von Johannes dem Täufer taufen ließ. Doch Johannes der Täufer war nicht der schlichte Vorläufer Jesu, als den ihn die Evangelien zeichnen. Johannes war ein selbständiger Prediger, der angesichts des bevorstehenden Gerichts Gottes seine Generation zur Umkehr mahnte. Wer seine Umkehrpredigt annahm, ließ sich von Johannes in den Jordan eintauchen. Jesus blieb eine gewisse Zeit in der Nähe des Täufers, wie die Nachrichten in Joh 3,22-4,3 belegen.
– Die Botschaft Jesu von der Herrschaft Gottes: Eine Vision, die Jesus in den Worten mitteilt: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen (Lk 10,18), ist wohl der Auslöser, dass Jesus sich vom Täufer Johannes trennt und seine eigene Verkündigung beginnt. In dieser Vision vom Satanssturz wird die grundlegend neue Erfahrung Jesu deutlich: Die Herrschaft Gottes hat sich – zumindest im Himmel – gegen die gottfeindlichen Mächte durchgesetzt. Dies wird nun zum Inhalt seiner Predigt: Gottes Herrschaft ist nahe gekommen (vgl. Mk 1,15). Die Dörfer am See Gennesaret werden sein erstes Wirkungsfeld. Er zieht wandernd umher, um den Menschen die Botschaft der Gottesherrschaft erfahrbar zu machen. In den Sprichwörtern und Gleichnissen der Evangelien, in denen er das Kommen und Wachsen der Gottesherrschaft schildert, ist die authentische Stimme Jesu am ehesten vernehmbar. In seinem Gebet, dessen Gottesanrede abba uns sogar in Aramäisch, der Muttersprache Jesu, überliefert ist, steht die Bitte um das Kommen des Reiches (Gottes) an zentraler Stelle. In der Begegnung mit ihm erfahren Menschen Heilung. Er lässt sich einladen, um mit den Menschen die anbrechende Gottesherrschaft zu feiern; besonders mit denen am Rande.
– Prozess und Kreuzestod: Ein größerer und am Ende tödlicher Konflikt bahnt sich in Jerusalem mit der jüdischen Aristokratie an. Im Prozess gegen Jesus spielt ein Spruch gegen den Tempel, in dem er dessen Untergang voraussagt (vgl. Mk 14,58), eine entscheidende Rolle. In diesem Konflikt ging es um die Funktion des Tempels. Für Jesus, der überzeugt war, die Gottesherrschaft wird sich in Kürze durchsetzen, war die Zeit des Tempels und des täglichen Opferbetriebs vorbei. Dies konnte und wollte die jüdische Aristokratie nicht hinnehmen und betrieb seine Hinrichtung. Die Notiz des Josephus Flavius über die Zusammenarbeit der Vornehmsten unseres Volkes mit Pilatus gibt die Verantwortlichen für den Tod Jesu am Kreuz historisch zutreffender wider als die Evangelien, die das ganze jüdische Volk beteiligt sehen.
Betlehem oder Nazaret? Kehren wir am Ende zu unserer Ausgangsfrage zurück. Die Forschung wird die Frage nach dem historischen Geburtsort Jesu nicht endgültig klären können. Auf Nazaret weist der Name Jesus von Nazaret und die unbestrittene Herkunftsbezeichnung Galiläer hin. Betlehem ist als Geburtsort nur in den Kindheitsgeschichten überliefert; und diese gehören zu den am stärksten theologisch geprägten Erzählungen. Eine genauere Antwort ist nicht möglich. Mit Paulus müssen wir eingestehen: Stückwerk ist unser Erkennen (1 Kor 13,9). Wichtiger für Christen ist jedoch nicht das Wissen um den genauen Geburtsort, sondern die Betroffenheit durch den Glauben, dass in Jesus die Güte und Menschenliebe Gottes in seiner Fülle offenbar wurde. Dann können wir mit Friedrich Spees Worten singen: In seine Lieb versenken, will ich mich ganz hinab; mein Herz will ich ihm schenken und alles, was ich hab.