Die Tafel

01. April 2018 | von

Seit 25 Jahren gibt es die Tafeln in Deutschland. Arme finden hier günstige Lebensmittel. Doch das Hilfsmodell ist nicht unumstritten.

Wenn ich über die Tafel etwas erfahren wolle, dann könne ich ihre Freundin anrufen, hat mir eine Bekannte für dieses „Thema des Monats“ empfohlen. Die Freundin sei nämlich einmal Vorsitzende eines Tafel-Vereins gewesen und das war, so meine Bekannte, „ein Hauen und Stechen“. Offensichtlich gab es damals unter den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern einige Unstimmigkeiten, die nicht immer nur im Einvernehmen gelöst werden konnten. Und tatsächlich ist gelegentlich von Tafel-Organisationen zu lesen, die händeringend weitere Ehrenamtliche oder einen neuen Vorstand suchen. Dass nicht immer alles glatt läuft – eigentlich kein Wunder. Immerhin gibt es in Deutschland mittlerweile über 900 kommunal organisierte Tafel-Vereine mit rund 60.000 engagierten Ehrenamtlichen, die an 2.100 Tafel-Läden Lebensmittelspenden entgegennehmen, bei Supermärkten abholen und dann an Bedürftige weitergeben. Dass es da so manche Reibereien gibt: geschenkt.

Kampf in und ums Essen
Wenn man dann wiederum bedenkt, dass die Tafeln in Deutschland mittlerweile für etwa 1,5 Millionen Menschen zur Anlaufstelle für kostenlose oder zu einem symbolischen Preis verkaufte Lebensmittel geworden sind, wundert es auch nicht, dass es unter den Nutznießern der Lebensmittelspenden mitunter zu Unstimmigkeiten kommt.
Medial große Aufmerksamkeit erregte da kürzlich der Fall der Tafel in Essen. Im Dezember 2017 wurden die Voraussetzungen, um an der Lebensmittelausgabe teilnehmen zu können, um folgenden Passus erweitert: „Da aufgrund der Flüchtlingszunahme in den letzten Jahren der Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden auf 75% angestiegen ist, sehen wir uns gezwungen, um eine vernünftige Integration zu gewährleisten, derzeit nur Kunden mit deutschem Personalausweis aufzunehmen.“ Ältere Menschen und alleinerziehende Mütter, so die Verantwortlichen, hätten sich von vielen fremdsprachigen jungen Männern abgeschreckt und nicht selten auch bedroht gefühlt. 
Ein Aufschrei ging durch die Republik. Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisierte den pauschalisierten Aufnahmestopp als „nicht gut“ und bedauerte – bei allem Verständnis für den Druck, dem wohl viele Tafeln ausgesetzt sind – die Kategorisierung in „Deutsche“ und „Ausländer“. Ihr neuer Gesundheitsminister Jens Spahn hingegen bezeichnete die Maßnahmen als richtig, weil junge Asylbewerber oft „derart dreist und robust“ auftreten würden, „dass Ältere oder Alleinerziehende keine Chance mehr haben, auch etwas von den Lebensmitteln abzubekommen.“

Steigender Bedarf
Für einen Aufschrei unter vielen Tafel-Ehrenamtlichen und den Nutzern des dortigen Lebensmittelangebots hat dann ein weiterer Kommentar des CDU-Politikers gesorgt: „Niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe.“ Mit Verweis auf „eines der besten Sozialsysteme der Welt“ meinte er, dass mit den Hartz-IV-Leistungen „jeder das hat, was er zum Leben braucht.“ Sind die Angebote der Tafel also überflüssig? Ist die Arbeit der vielen Tausend Ehrenamtlichen sinnlos?
Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Wer für die Lebensmittelausgabe berechtigt ist, muss zunächst seine Berechtigung nachweisen – z. B. durch den Empfang von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) oder Grundsicherung – und erhält dann eine Berechtigungskarte der Tafel. Etwa 1,5 Millionen Menschen sind derzeit Nutznießer des Angebots. Die große Tafel-Umfrage aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass die Gesamtkundenzahl von 2014 auf 2016 um etwa 18% gestiegen ist. Etwa die Hälfte der Kunden sind Erwachsene im berufsfähigen Alter, je ein Viertel sind Kinder und Jugendliche bzw. Rentnerinnen und Rentner. Die beiden letzteren Gruppen sind, so die Beobachtungen der Tafeln, zunehmend von Armut betroffen und auf die Lebensmittel angewiesen. Über die Hälfte der Tafeln, die sich an der Umfrage beteiligten, gaben an, dass im Jahr 2016 manchmal die Warenspenden nicht ausreichten, um alle Kunden zu bedienen. Temporär verhängte Aufnahmestopps oder Wartelisten waren die Folge. Die Tafeln, sie scheinen notwendiger denn je.

Versagt der Staat?
Und dennoch ist ihr Angebot nicht unumstritten. Selbst der Caritasverband ist der Meinung: „Existenzunterstützende Angebote dürfen nicht zum dauerhaft etablierten Ausfallbürgen des Staates werden und zur Entwicklung einer Parallelgesellschaft beitragen.“ Und dann schließlich: „Es wäre fatal, wenn die politischerseits gern gesehene Tafelbewegung dazu beiträgt, dass sich der Staat mit Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückzieht.“
Sozialverbände und Politiker des linken Spektrums konstatieren gar ein eklatantes Versagen des Sozialstaats: Wo immer mehr Menschen auf das Angebot der Tafeln angewiesen seien und die Armut beständig zunähme, würden soziale Sicherungssysteme versagen. 
Der Soziologe Stefan Liebig warnt allerdings vor der Schlussfolgerung, dass lange Schlangen vor den Tafeln gleichzeitig eine Zunahme der absoluten Armut in Deutschland bedeuten. Mit dem vorliegenden Datenmaterial kann immer nur die relative „Armutsgefährdungsquote“ errechnet werden. Die liegt bei 60% des mittleren Einkommens. Dazu werden alle Einkommen in Deutschland quasi in einer aufsteigenden Reihe nebeneinandergestellt. Bei exakt der Hälfte der Einkommen wird Maß genommen – es handelt sich also um kein Durchschnittseinkommen, sondern eben um das mittlere Einkommen. Wer nun von diesem Einkommen weniger als 60% hat, der gilt als von Armut gefährdet. Sind die Betroffenen dann so arm, dass sie sich keine Lebensmittel mehr leisten können und deshalb bei der Tafel landen? Oder, so fragt Stefan Liebig, „greifen sie auf das kostenfreie Angebot der Tafeln zurück, um damit Konsumausgaben zu tätigen, die den eigenen Vorlieben und Wünschen besser entsprechen und über das, was als soziales Minimum in der Gesellschaft angesehen wird, hinausgehen? Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn sie das knappe Geld für Bücher statt für Brot und Joghurt ausgeben.“

Wider die Lebensmittelverschwendung
Unabhängig davon, ob es nun tatsächlich mehr Menschen gibt, die nicht mehr genug Geld zur Verfügung haben, um Lebensmittel im regulären Handel zu kaufen oder nicht: Ein vermutlich nicht ganz unberechtigter Vorwurf an die Tafeln lautet, dass sie keine strukturellen Probleme lösen würden, sondern „nur“ dank des ehrenamtlichen Engagements und der Mildtätigkeit Dritter vorübergehend Not lösen können. 
Diesem Ziel – akute Not zu lindern – jedenfalls sah sich die weltweit erste Food Bank verpflichtet, die 1963 in Phoenix im US-Bundessaat Arizona von John van Hengel gegründet wurde. 1993 griff die Initiativegruppe Berliner Frauen e.V. um die Sozialpädagogin Sabine Werth die Idee auf, und die Organisation „Tafel Deutschland e.V.“ wurde gegründet. In den vergangenen 25 Jahren ist ein bundesweites Netzwerk mit kommunal agierenden Tafeln entstanden. Ihr erklärtes Ziel ist es, „einen Ausgleich zwischen Überfluss und Mangel“ zu schaffen. Nach Berechnungen der Umweltorganisation WWF landen in Deutschland jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll – das entspricht etwa einem Drittel der überhaupt produzierten Nahrungsmittel! Um dieser ungeheuerlichen Menge Herr zu werden, wurde in Frankreich im Februar 2016 ein Gesetz verabschiedet: Supermärkte dürfen Lebensmittel nicht mehr einfach wegwerfen, sondern müssen sie spenden. Bis zum Jahr 2025 will die französische Regierung auf diese Weise die Verschwendung von Lebensmitteln halbieren.
Deutschland hinkt hinten nach. Die Tafeln bemühen sich aber, zumindest das, was im Wirtschaftskreislauf aufgrund von Überproduktion oder Schönheitsfehlern oder wegen des nahenden Mindesthaltbarkeitsdatums nicht mehr verkauft werden kann, vor der sinnlosen Vernichtung zu bewahren – und es weiterzugeben an Menschen, deren Einkommen kaum zum Lebensunterhalt reicht. Dabei sind sie angewiesen auf die freiwilligen Spenden der Supermärkte solange eine gesetzliche Regelung in Deutschland fehlt.

Vielfache Wirkung
In einer Presseinformation verweist die Dachorganisation der Tafeln in Deutschland vor allem auf drei Wirkungen der Lebensmittelspenden:
Da es sich (bei den von den Supermärkten eingehenden Spenden) vorwiegend um Obst, Gemüse, Milchprodukte und Backwaren handelt, leisten die Tafeln einen Beitrag zu einer ausgewogenen Ernährung.
Sie verschaffen den Tafel-Nutzer/innen einen kleinen, aber wichtigen finanziellen Spielraum, z. B. für ein Kleidungsstück, einen Besuch mit den Kindern im Zoo, ein Buch oder ein Geschenk für einen Freund. Dies eröffnet den betroffenen Menschen Chancen für mehr soziale Teilhabe. 
Die Tafeln sind Orte der Kommunikation und Begegnung zwischen Menschen mit den unterschiedlichsten Lebens- und Berufserfahrungen. Hier werden Kontakte geknüpft, Informationen mit Helfern oder anderen Betroffenen ausgetauscht. In vielen Tafeln engagieren sich Bedürftige selbst als ehrenamtliche Helfer/innen. 
Damit lässt sich dann auch tatsächlich schnell der Vorwurf entkräften, die Tafeln würden nur an den Symptomen „herumdoktern“, aber keine wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Fast 2/3 der Tafeln bieten spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche – vom Schülerfrühstück bis hin zu Kinder-Kochgruppen. An manchen Orten, vor allem in größeren Städten, wird für Senioren ein Mittagstisch angeboten und speziell an Flüchtlinge wenden sich organisierte Deutschkurse. Gut die Hälfte der Tafeln bietet übrigens nicht nur Lebensmittel an, sondern auch Kleidungsstücke. Manche haben sogar Möbel und Haushaltsgeräte in ihrem Sortiment. Über die vielen Gespräche vor und hinter der Verkaufstheke hinaus führen etwa 35% der Tafeln auch Sozialberatungen durch. So sind die Tafeln eine vielfältige und wertvolle Ergänzung zu den Hilfsangeboten des Staates und den Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten anderer Wohltätigkeitsorganisationen. 

Politische Lobbyarbeit
Zusätzlich betreibt die Dachorganisation der Tafeln Lobbyarbeit. Zur Bundestagswahl im vergangenen Herbst hat der Vorstand einen eigenen Forderungskatalog aufgestellt. Darin wird noch einmal deutlich, dass es nicht nur um die Weitergabe von Lebensmittelspenden geht, sondern um weit mehr − nicht zuletzt Bewusstseinsbildung, den Anfang aller Veränderung: „Unser Land zählt zu den reichsten der Welt. Die Wirtschaft wächst. Wir haben von allem genug. Und trotzdem fehlt es zu vielen Menschen an zu viel. Das Problem der Armut wird nicht geringer, obwohl die Wirtschaftskraft wächst und der Reichtum zunimmt. Bei den Tafeln sehen und erleben wir diese Gegensätze von Überfluss und Mangel jeden Tag. Im gesellschaftlichen Alltag hingegen haben Reichtum und Armut kaum Berührungspunkte. Wir sehen es deshalb als unsere Aufgabe an, den politisch Verantwortlichen, aber auch den wirtschaftlich Starken in unserem Land die Armut und den damit verbundenen Mangel an Chancen, Teilhabe, finanziellen Mitteln und gesunder Nahrung zu zeigen und an ihre Verantwortung zu appellieren.“

Respekt und Vorsicht
Wie auch immer man nun die Arbeit der Tafeln in Deutschland einschätzen mag: Ihr enormer Zulauf macht deutlich, dass zumindest derzeit (und seit etlichen Jahren) ein akuter Bedarf besteht. Nach wie vor erhält die Organisation Lebensmittelspenden − Nahrungsmittel, die ansonsten auf dem Müll landen würden. Und zig Tausende Ehrenamtliche sind bereit, ihre Freizeit zu opfern, um diese Lebensmittel zu sortieren und an Bedürftige weiterzugeben.
Wer sich anschickt, die Tafeln zu kritisieren, sollte wohl zumindest Alternativvorschläge parat haben, wie der offenkundigen Not mit anderen Methoden beizukommen wäre. Ansonsten gilt es, höchsten Respekt vor den Menschen zu haben, die sich hier uneigennützig engagieren − und eine gewisse Vorsicht in der Beurteilung der Menschen walten zu lassen, die auf das Angebot der Tafeln zurückgreifen. Für die meisten Tafel-Kunden wird es wohl auch eine gewisse Überwindung sein, sich hier als Bedürftiger registrieren zu lassen − und sich und anderen einzugestehen, dass man auf Hilfe angewiesen ist und selbst das Lebensnotwendige nicht aus eigenen Mitteln finanzieren kann.

Zuletzt aktualisiert: 01. April 2018
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