Ein Einsiedler, ein Bär und viele Wallfahrer

01. März 2017 | von

Auf der Fahrt von Deutschland nach Padua liegt die Ortschaft Sanzeno in etwa auf der Strecke. Br. Andreas hat den kleinen Umweg in Kauf genommen und diesen Wallfahrtsort besucht. Vielleicht weckt unser Artikel auch Ihr Interesse...

Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich auf dem Weg nach Padua in Sanzeno bei unseren Brüdern übernachtet habe, aber die Erinnerung ist noch frisch – vor allem die an den sehnsüchtigen Blick von P. Fabio Scarsato, dem Direktor der italienischsprachigen Ausgabe des Sendboten, als ich ihm von diesem Zwischenstopp erzählte. Denn er war einige Jahre lang dort Guardian und Pfarrer und hatte offensichtlich Gefallen gefunden an diesem nicht einmal 1.000 Einwohner zählenden Ort im Val di Non (Nonstal), nördlich von Trient. Bei meinem dortigen Besuch hat mich P. Giorgio Silvestri, der ehemalige Generalökonom unseres Ordens, herumgeführt – und mich mit seiner Begeisterung zumindest ein klein wenig angesteckt.

Bei den Nonsberger Märtyrern
Als ich abends ankomme, ist es schon zu spät für einen Besuch an der Wallfahrtskirche des heiligen Romedius (San Romedio), selbst die einzige Pizzeria des kleinen Ortes ist schon geschlossen. Aber da ich mit dem Pfarrer unterwegs bin, kann er mir zumindest die Pfarrkirche aufschließen, die den Nonsberger Märtyrern geweiht ist. Diese drei Männer – Sisinius, Martyrius und Alexander – waren Laien aus Kappadozien, einem Gebiet in der heutigen Türkei, die sich freiwillig bei Vigilius (+ 400), dem damaligen Bischof von Trient, gemeldet hatten, um sich als Missionare zur Verfügung zu stellen. Er sandte sie in das Val di Non, wo sie den Glauben verkünden (und leben) sollten. Die alte Heiligenlegende Bavaria Sancta (1861) berichtet von dieser Herausforderung: „Die Einwohner des Tales waren ganz rohe Leute ohne alle Gesittung und Bildung. Ihre abgöttischen Religionsübungen waren die wildesten Ausbrüche von Ausgelassenheit und Schamlosigkeit.“ Einige Heiden lassen sich vom christlichen Glauben überzeugen. Doch die Mehrheit ist weniger freundlich gesinnt, so dass es am 29. Mai 397 zu diesem Zwischenfall und damit zum Martyrium der drei frommen Männer kommt – wie die Heiligenlegende berichtet: „Sie (die Ortsansässigen) waren entschlossen, dieselben vor ihre Götzenaltäre zu schleppen und sie zu zwingen, den Götzen zu opfern. Mit Keulen bewaffnet, rotteten sie sich vor dem neu erbauten Kirchlein zusammen. Die heiligen Männer sangen eben das Lob ihres Herrn und Gottes. Die kleine Herde der Gläubigen war um sie versammelt. Nun drangen die Wütenden ins Kirchlein ein, schändeten das Heiligtum, durchwühlten alles, zerschlugen, was ihnen zur Hand kam, und scheuchten die kleine Schar der Betenden auseinander. Jetzt fielen sie über Sisinius, Martyrius und Alexander her und forderten sie auf, den Götzen Opfer und Weihrauch zu spenden. Als diese sich weigerten, schlugen und misshandelten sie dieselben so grausam, dass sie wie tot auf der Erde liegen blieben. Dem heiligen Sisinius hatten sie mit einem Horn von Erz, dessen sie sich bei ihren Götzenopfern bedienten, das Haupt zerschmettert.“ 
Bischof Vigilius ließ die sterblichen Überreste der Märtyrer sichern und später eine kleine Kapelle errichten, die im 15./16. Jahrhundert durch die heutige Kirche ersetzt und 1973 von Papst Paul VI. in den Rang einer „Basilika“ erhoben wurde.

Verschlungene Pilgerwege
Am nächsten Morgen geht es nach einem italienischen Frühstück – um Zeit zu sparen mit dem Auto – zum Wallfahrtsort San Romedio. Durch eine 100 Meter tiefe und zwei Kilometer lange Schlucht geht es vom Kloster bis fast vor die Türe der Wallfahrtskirche – ein Privileg, das richtige Pilger sicher nicht nutzen werden. Vor ihnen liegt ein längerer Fußweg, dann aber gewiss auch ein größeres Staunen, was hier, mitten im Wald auf einem Felsen, alles gebaut wurde. Das heutige Erscheinungsbild der Wallfahrtsstätte geht auf Bauarbeiten im 17.-19. Jahrhundert zurück. Durch ein Eingangstor mit einer Statue des heiligen Romedius betreten wir den inneren Bezirk, natürlich nicht ohne dass mich mein Führer auf die Inschrift hingewiesen hätte, die ich erst später verstehen werde: „O welch wundersame, seltsame Begebenheit! Der Bär, das wilde Tier, wird menschlich. Wie wundersam, der Mensch, als Mensch geboren, versucht, sich in ein wildes Tier zu verwandeln.“
Vom Innenhof aus gelangt man nun zu verschiedenen Kapellen und Kirchen, wobei die größte dem heiligen Romedius geweiht ist. Ein kleiner Raum, knapp 15 Quadratmeter messend, wird Gedächtniskapelle oder auch Reliquienkapelle genannt. Dort befinden sich in einer Urne über dem Altar Knochen des heiligen Einsiedlers Romedius. Es wird Zeit, dass mir P. Giorgio etwas über den mir völlig unbekannten Heiligen erzählt.

Dürftige Quellenlage
Die historische Einordnung ist gar nicht so leicht. Je nach Quelle wurde der heilige Romedius schon in das 4. Jahrhundert, das 7. oder 8. Jahrhundert einsortiert, bis man irgendwann sogar behauptete, er wäre mit dem heiligen Remigius verwechselt worden und hätte entsprechend gar nicht existiert. Heute geht man allgemein davon aus, dass Romedius im 11. Jahrhundert gelebt hat. Er soll dem Geschlecht der Andechser angehört und sich auf eine Pilgerreise nach Rom begeben haben, nachdem er all sein Hab und Gut verschenkt hatte. Auf den Rat des Bischofs von Trient hin soll er sich auf der Felsspitze, an dem sich der heutige Wallfahrtsort befindet, später als Einsiedler niedergelassen haben. 

Die Legende vom Bären
Gegen Ende seines Lebens beschloss Romedius, diesen nun befreundeten Bischof noch einmal zu besuchen. Und davon berichtet die berühmte Bären-Legende, die dann auch die Inschrift über dem Eingangsportal erklärt: „Während der Vorbereitung auf die Reise in seiner Höhle auf dem Felsen bat er seinen Gefährten David, auf die Wiese hinabzugehen, die jetzt der Eingang des Heiligtums ist, und sein Pferd zu satteln. David ging hinunter. Nach einer Weile kam er zurück, war außer Atem und schrie: ‚Romedius, Romedius!‘ ‚Warum schreist du?‘ fragte Romedius. ‚Das Pferd ist weg, das Pferd ist weg!‘ rief der arme David verzweifelt. ‚Es ist weg! Es ist weg! Was meinst du?‘ ‚Wir können nicht mehr zum Bischof nach Trient gehen!‘ ‚Warum meinst du, dass wir das nicht mehr können? Die Sache ist zu wichtig. Ich muss gehen! Aber sag mir, was ist passiert?‘ ‚Ein Bär frisst das Pferd!‘ ‚Was?‘ ‚Ein Bär! Er hat es schon in Stücke gerissen!‘ ‚Hab‘ keine Angst, David!‘ rief Romedio. ‚Geh zurück und mache den Bären zu Nutzen!‘ ‚Oh, nein, Romedius, ich fürchte mich!‘ ‚Du gehst hinunter und tust, was ich sage. Der Bär wird satt sein.‘ ‚Nein! Nein! Romedius. Er ist ausgehungert. Du solltest gesehen haben, wie er das Pferd gefressen hat!‘ ‚Gehorche, David. Wir haben keine Zeit zu verlieren.‘ David, der gewohnt war, den Befehlen zu gehorchen, ging schließlich wieder nach unten und hob die Zügel auf, die er am Fuß der Treppe fallen hatte lassen; zu seinem Erstaunen näherte sich der Bär ganz ruhig wie ein kleiner Junge und entschuldigte sich, dem heiligen Romedius Ärger gemacht zu haben. Der Bär erlaubte, gesattelt und aufgezäumt zu werden, wobei er auch das Gebiss verhüllte, um zu vermeiden, jemanden anzufallen, und als der heilige Einsiedler kam, bereitete sich der Bär darauf vor, bestiegen zu werden, bereit zum Aufbrechen. David stand staunend da, und der heilige Romedius sagte zu ihm: ‚Lass uns gehen, wir können nicht länger warten.‘ Auf ihrer Reise passierten wundersame Dinge. Die Menschen merkten, dass sie von einem Mann Gottes besucht wurden und waren überglücklich, ihn rittlings auf dem Bären zu sehen, der sie in den vergangenen Jahren so erschrocken hatte. Romedius‘ Sanftmut hatte die Wildheit des Tieres überwunden, das die gesamte Gegend terrorisiert hatte. Ehre sei dem heiligen Romedius! Amen.“

Zahlreiche Pilgerströme
Mein Pilgerführer hat mir nicht erzählt, dass diese Bärengeschichte in nahezu identischer Fassung auch im Leben des heiligen Lukan von Säben (5. Jh.) berichtet wird, doch spielt das eine Rolle, wenn man betrachtet, wie viele Menschen im Lauf der Jahrhunderte an diesem heiligen Ort Trost und Zuversicht für ihr Leben fanden?
Schon bald nach dem Tod des heiligen Romedius wird sein Grab von zahlreichen Gläubigen aufgesucht. Besonders viele sind es jedes Jahr am 15. Januar, dem Fest des heiligen Einsiedlers. Für einen Kurzbesuch sind die wärmeren Sommermonate aber sicher besser geeignet. Die Kirchen sind von morgens bis abends geöffnet, es gibt auch eine Bar, wo man Kleinigkeiten essen kann. Die Brüder bieten auch eine sehr einfache Übernachtungsmöglichkeit an – besonders gut geeignet für Stille Tage oder Exerzitien. Ob die Angabe im Kirchenführer dann aber tatsächlich stimmt und San Romedio jedes Jahr von einer Viertel Million Pilgern besucht wird, daran jedoch habe ich zumindest so meine Zweifel. 

Ein paar Bären und eine offene Frage
Die meisten der Besucher werden aber neugierig sein, wie es dem Bären geht, der in San Romedio an die Tradition der Legende anknüpft und einem Gehege unterhalb der Wallfahrtskirche lebt. Die Tradition dieses leibhaftigen Bären geht zurück auf das Jahr 1958: Ein erblindeter Zirkusbär sollte geschlachtet werden, um zumindest noch sein Fell verkaufen zu können. Einige Jugendliche konnten den Bären freikaufen und ihn dem Zoo von Mailand anvertrauen, wo ihm das Klima jedoch nicht bekam. Mit Verweis auf die Bärenliebe des heiligen Romedius kam der Bär schließlich in San Romedio unter. Und im Lauf der letzten Jahrzehnte gab es immer einige Bären, meist solche, die am Wallfahrtsort ihren Lebensabend verbringen durften. Vor lauter tierischer Neugier vergisst der fromme Pilger aber hoffentlich nicht, seine Antwort zu formulieren auf die Frage, die ihm am Eingang der Kirche gestellt worden war: „Pellegrino, a che sei venuto?“ – „Pilger, wozu bist du hierher gekommen?“

Zuletzt aktualisiert: 19. März 2017
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