Ein Gerechter in Auschwitz

17. Februar 2020 | von

Im Russischen Kaiserreich, im Städtchen Olonez, wird Witold Pilecki am 13. Mai 1901 geboren. Im 1. Weltkrieg schließt er sich einer polnischen Selbstverteidigungsgruppe in Wilna, Litauen, an, wohin die Familie 1910 gezogen war. Zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg heiratet er seine Frau Maria, die zwei Kinder, nämlich Andrzej und Zofia, zur Welt bringt. Der Lebensunterhalt der Familie wird durch die Arbeit auf dem Bauernhof der Familie bestritten. Kurz nach Ausbruch des 2. Weltkriegs gründet Witold Pilecki gemeinsam mit einem Kameraden die Tajna Armia Polska, eine Untergrundorganisation, die später in der sogenannten „Heimatarmee“ aufgehen wird. Wichtige Stationen seines Lebens sind lexikalisch schnell erzählt. Doch bleibende Erinnerung wird ihm für einen Plan zuteil, den er im Jahr 1940 seinen Vorgesetzten mitteilt.

Jenseits aller Normalität
Pilecki schlägt vor, sich in das Konzentrationslager Auschwitz, über das man damals noch nicht allzu viel weiß, einschleusen zu lassen, um dort einerseits Informationen zu sammeln und andererseits den Widerstand der Insassen zu organisieren. Nachdem er grünes Licht bekommen hat, lässt er sich am 19.09.1940 unter dem Pseudonym Tomasz Serafiński bei einer Razzia in Warschau verhaften. 2.000 Zivilisten werden mit ihm gemeinsam zwei Tage lang gefoltert und schließlich nach Auschwitz deportiert. Hier erhält Witold Pilecki die Häftlingsnummer 4859 eintätowiert und es beginnt etwas, von dem er später resümieren wird: „Das Spiel, das ich jetzt in Auschwitz spielte, war gefährlich. Dieser Satz gibt die Wirklichkeit aber eigentlich nicht wieder: Ich war weit darüber hinausgegangen, was Menschen in der wirklichen Welt für gefährlich halten würden.“ Denn: „Ungefähr um 22 Uhr hielt der Zug irgendwo an und fuhr nicht weiter. Wir konnten Brüllen und Geschrei hören. Diesen Moment meiner Geschichte sehe ich als den an, in dem ich allem Vertrauten auf der Welt Lebewohl sagte und in etwas eintrat, das nicht mehr von dieser Welt schien. Die Gewehrkolben der SS trafen nicht nur unsere Köpfe, sondern auch etwas viel Mächtigeres. Unsere Vorstellungen von Recht und Ordnung und aller Normalität, alles, woran wir uns im Leben gewöhnt hatten, bekam einen brutalen Tritt.“

Erhoffte Hilfe bleibt aus
Die von ihm mitbegründete „Vereinigung militärischer Organisationen“ setzt sich zum Ziel, die Moral unter den Häftlingen im Konzentrationslager zu verbessern. Einander ermutigt man sich zum Durchhalten und strickt eifrig an einem geheimen Netzwerk, das sich nicht nur darum bemüht, von draußen Nachrichten zu bekommen, sondern auch eine Zusatzversorgung an Nahrung und Kleidung. Unterstützer aus der Umgebung schmuggeln Medikamente ins Lager, und bis zum Frühjahr 1942 wird die Geheimorganisation in fast allen Teillagern von Auschwitz mehr als 1.000 Mitglieder zählen. Eifrig sammelt Pilecki Informationen und schickt schon im Oktober 1940 einen ersten Lagebericht nach Warschau; im März 1941 treffen erste Augenzeugenberichte bei den Alliierten in London ein. Man erhofft sich Waffen und Truppen oder die Unterstützung bei der Befreiung durch einen Angriff aus der Luft – doch Pilecki muss nach und nach begreifen, dass es keine solchen Pläne gibt. Der Historiker Wiesław Jan Wysocki schreibt: „Zuerst hat man diesen Nachrichten nicht geglaubt, weil man diesen Terror und diese Massentötungen nicht für möglich hielt. Dann haben die Alliierten mit technischen Gründen argumentiert, man könne Auschwitz nicht bombardieren, weil es zu weit weg sei. Man kann es kurz zusammenfassen: Es war Gleichgültigkeit.“
Ein Grund wird auch gewesen sein, dass die Alliierten die von Pilecki angegebenen Zahlen für übertrieben hielten, wenn er in seinen späteren Aufzeichnungen schreibt: „Nach den Schätzungen von Häftlingen aus den Arbeitskommandos dieses Bereichs betrug die Zahl dieser Opfer bis zu meinem Weggang aus Auschwitz über zwei Millionen. – Ich betone, dass es sich dabei um eine vorsichtige Schätzung handelt, die auf den täglich beobachteten Vergasungen beruht. Kameraden, die länger in Auschwitz blieben als ich und die tägliche Vergasung von 8.000 Menschen mit ansehen mussten, schätzen etwa fünf Millionen Tote.“
Seriöse Wissenschaftler gehen heute von bis zu eineinhalb Millionen Opfern in Ausschwitz aus. Deutlich weniger als die von Pilecki angenommen Zahl – und dennoch, seine Tochter stellt fest: „Diese Hölle, die mein Vater in Auschwitz erlebt hat, als er dort ein Widerstandsnetz aufbaute, das Menschen retten wollte, ihnen Nahrung zukommen ließ, diese Hölle war schrecklich. Wenn man seine Spuren in Auschwitz verfolgt, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass er ein Mensch war, den Gott mit einer Mission dort hingeschickt hat.“

Todesurteil – und späte Würdigung
Weil er mit seinen schriftlichen Berichten das gewünschte Ziel nicht erreicht, entschließt sich Pilecki zur Flucht, um persönlich ein militärisches Eingreifen der Heimatarmee zu erreichen. Die Flucht gelingt zwar, doch die Unterstützung des Militärs bleibt weiterhin aus. Er selbst beteiligt sich im August 1944 am Warschauer Aufstand – und gerät wieder in die Hände der Deutschen. Erst ein gutes halbes Jahr später wird er von US-Soldaten befreit. Der Krieg ist vorbei. Auch in Polen beginnt die Besatzungszeit. Im Mai 1947 wird er vom kommunistischen Geheimdienst verhaftet. Man wirft ihm unter anderem Spionage für die westlichen Allierten vor und verurteilt ihn in einem Schauprozess zum Tod. Am 25. Mai 1948 wird er hingerichtet – und erst am 1. Oktober 1990 rehabilitiert. Heute gilt er als „Gerechter unter den Völkern.“

„Was ich auf den vorliegenden wenigen Dutzend Seiten niedergelegt habe, ist unwichtig, besonders für jene, die sie nur zur Unterhaltung lesen, aber ich würde gerne in größeren Buchstaben, als sie eine Schreibmaschine aufweist, für all jene hinzufügen, die unter ihren sorgfältig gezogenen Scheiteln nur das sprichwörtliche Sägemehl haben und die ihren Müttern für einen Kopf danken müssen, der so geformt ist, dass das Sägemehl nicht herausrieselt: Denkt einen Moment über euer eigenes Leben nach, schaut euch um und beginnt euren eigenen Kampf gegen die Falschheit, gegen die Lügen und die Selbstsucht, die uns so kunstvoll als nicht nur wichtig und wahr, sondern als eine große Sache vorgeführt werden.“ 

Zuletzt aktualisiert: 17. Februar 2020
Kommentar