Ein Heiliger des Volkes

14. Oktober 2018 | von

Atena Lucana in der italienischen Region Kampanien und Accettura in der Region 
Basilikata: zwei Orte in den Apenninen, wo jedes Jahr Prozessionen veranstaltet werden, die zwar nicht besonders aufwendig oder spektakulär sind, dafür aber sehr gesammelt und mit einer großen Teilnahme. Mit einem Besuch dort beginnen wir unsere Reihe zur Antonius-Verehrung auf der ganzen Welt.

Accettura und Atena Lucana: zwei Dörfer, zwei Kirchlein und an beiden Orten eine noch sehr lebhafte Verehrung des heiligen Antonius. Beginnen wir unsere kleine Reise in Accettura, wo ich gleich einmal mit den Tagesheiligen und Gedenktagen durcheinander gebracht werde. 

Antoniusverehrung mit Tradition
Don Pinuccio Filardi, 71 Jahre alt, der Pfarrer von Accettura in den Apenninen, zählt auf: Am Montag denkt man an das Fegefeuer, der Mittwoch ist der Madonna des Karmels geweiht, der Donnerstag dem Heiligen Geist, der Freitag der Passion Christi, samstags betet man wieder um die Hilfe der Madonna und der Sonntag ist traditionsgemäß der Tag der Dreifaltigkeit. Es fehlt der Dienstag: An diesem Tag gedenkt man der beiden Heiligen des Ortes: Julian, der Schutzpatron, und der heilige Antonius von Padua.
Die Franziskaner-Minoriten sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in diese abgeschiedene, einsame Gegend gekommen. Damals pilgerten sie, ohne sich länger an einem Ort aufzuhalten, durch die Regionen Süditaliens. In Accettura gründeten sie einen Konvent, den sie dem heiligen Franziskus weihten. Die Kirche allerdings wurde Antonius geweiht. Die Minoriten blieben vier Jahrhunderte hier – sie wurden als Folge der antiklerikalen Gesetze im Jahr 1809 vertrieben.
In jenen weit zurückliegenden Zeiten gingen die Brüder auch in die entferntesten Orte in den Bergen. Sie predigten und erzählten den Menschen von den „wunderbaren Taten“ des heiligen Antonius. Die Bauern kamen durcheinander (oder aber sie haben bewusst zwei Erzählungen vermischt): Sie kannten schon heilige und legendäre Geschichten eines anderen Antonius. Im 11. Jahrhundert wurden die Reliquien eines ägyptischen Eremiten, des Mönchsvaters Antonius, von Konstantinopel ins Dauphiné nach Frankreich überführt. Eine unglaubliche Reise durch das mittelalterliche Europa, ein christliches Abenteuer, das tiefe Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat. Antonius von Padua hingegen war ein bereits im Mittelalter beliebter Heiliger, vielleicht war er sogar durch diese Berge gekommen auf seinem Weg von Messina in Sizilien nach Assisi. Viele Orte hier in der Basilikata haben ihn zu ihrem Schutzpatron gewählt. Nach Ansicht des Anthropologen Alfonso di Nola verschmolzen die beiden Antonius‘ zu einer einzigen Person: der Heilige als junger Mann und als Greis. Ein mutiger, starker und fähiger Heiliger. Er lieferte sich unzählige Duelle mit Satan, forderte ihn heraus, siegte über seine Tricks und Versuchungen. Der Heilige gewann immer.

Beschäftigter Wundertäter
Der eigentliche Schutzpatron von Accettura ist Julian, ein christlicher Märtyrer aus römischer Zeit: „Die Meister, Großgrundbesitzer, Händler und insgesamt die höheren sozialen Schichten beteten zu diesem Heiligen. Die Leute vom Land wendeten sich eher an den heiligen Antonius. Er war schon immer ein Heiliger, der von den einfachen Menschen geliebt wurde,“ erklärt mir der Pfarrer. Die beiden Antonius‘ leben in doppelter Form in den Herzen der Bauern: Der Mönchsvater schützt traditionsgemäß die Tiere, die massigen Stiere, die Pferde, Schafe, Ziegen. Antonius von Padua hingegen schützt vor Feuer und Brand. „Ich habe mir immer aufmerksam die erzählten Wunder angehört,“ erinnert sich Don Pinuccio, „viele Frauen erzählten mir, wie der heilige Antonius ihre Kinder vor Verbrennungen mit kochendem Wasser beschützt hat.“ Der heilige Antonius von Padua ist in Accettura also für die Brandvermeidung verantwortlich, wendet Blitze ab, schützt Kinder, die Kesseln mit kochendem Wasser zu nahe kommen. Die Bauern wissen, dass die Zunge des heiligen Antonius unverwest und unverwüstlich ist und bitten ihn deshalb, sie vor „bösen Zungen“ zu bewahren. Ihm werden auch der Schutz vor Gewalt und Ungerechtigkeit anvertraut.
Am 13. Juni nimmt man in Accettura, das an die typischen Prozessionen im Süden gewohnt ist (zu Ehren von Julian, des heiligen Rochus, an großen Festtagen oder der Baumritus, den man an Pfingsten begeht), die Statue des heiligen Antonius aus ihrer Nische in der Kirche und trägt sie durch den Ort.

Schlichtes Antonius-Kirchlein
Die Geschichte aus Atena Lucana ist anders. Hier, auf einer ländlichen Straße, gibt es keinen Grund, über ein abgelegenes Kirchlein zu schreiben: Hier sind Olivenbäume, kleine Mauern aus Natursteinen, hier und da ein Schaf, junge Eichen, eine Zypresse, ein großer Feigenbaum, ein alter, verwitterter Weinstock. Wieder sind wir an der Grenze zwischen Kampanien und der Basilikata. Das Dorf heißt Atena Lucana und hat 2.000 Einwohner. Es ist die älteste Ansiedlung im Vallo di Diano, der Hochebene zwischen den Bergen des Cilento und der Maddalena in der Provinz Salerno. Das Kirchlein ist dem heiligen Antonius „agli arnici“ geweiht – dieser Name lässt an die kleinen gelben Blüten der Arnikapflanze denken, kann aber auch eine Abwandlung von „Ernici“ sein, ein antikes italienisches Volk. Es gab Franziskaner hier, die außerhalb des Ortes im „Konvent der Taube“ lebten, der heute verlassen ist. Weniger als zehn Kilometer von hier entfernt leben drei Brüder: Sie leben im Konvent von Polla, wo es wundervolle Fresken gibt. Das Kirchlein hier hingegen ist einsam, schlicht, schmucklos. Man nimmt es im Vorbeigehen kaum als Kirche war. Es liegt direkt an der Straße. Das Pfarrhaus ist am Zerfallen, ein Teil des Daches ist eingestürzt. Aber vor der Tür liegen getrocknete Blumen, ein Ziegelstein, auf den der heilige Antonius gemalt ist. Das Kirchlein ist nicht wie die großen Kirchen in Messina oder in Istanbul, und doch ist es das kleine Gotteshaus, wo man innehält, um eine „Anti-Geschichte“ zu hören. 

Heimatverbundenheit
Atena Lucana hat dieselbe Geschichte wie alle Orte hier im tiefen Süden, hat sich jedoch gegen das typische Schicksal gewehrt: Tausende Bewohner sind zwischen dem Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts weggezogen. Es gibt mehr Beerdigungen als Taufen. Viele ziehen ins Tal, in die Nähe der Autobahn und der große Einkaufszentren, näher an den Arbeitsplatz. Ivan jedoch, ein junger Bauer, ist nach seinem Philosophiestudium in Florenz in seine Heimat zurückgekehrt. Er baut Weizen an, züchtet Esel und bietet „Urlaub auf dem Bauernhof“ an. Er ist es auch, der mich in diese abgelegene Kapelle begleitet hat. Dann hat er Don Michele gerufen, den Pfarrer von Atena. Auch Antonio kommt, Präsident des Fest-Komitees des Ortes. 
Der heilige Antonius ist hier nicht der Schutzheilige. Der Patron ist der heilige Cyrus, der 1863 das Wunder der Heilung von Marianna erwirkt hat, einer jungen Frau, die fast gestorben wäre. Der heilige Cyrus, ein altägyptischer Märtyrer, wird auf den Fresken in der Kirche von Atena mit dem franziskanischen Habit dargestellt. 

Nicht in Vergessenheit
Auch der Sakristan kommt hinzu, mit einem riesigen Schlüsselbund. Er öffnet uns die Kirche. Stuck, Mauerstücke, heruntergefallene Ziegeln, verwitterte Dachbalken, barocke Dekorationen. Wir versuchen, die Geschichte zu rekonstruieren. Auch das Internet hilft nicht weiter. Es gibt nur einen kleinen Hinweis bei Wikipedia: Es ist ein Gebäude aus dem 16. Jahrhundert. Ist das „die Anti-Geschichte“: eine Kapelle auf dem Land, völlig unbekannt, die die Verehrung für den heiligen Antonius bezeugt? Die Brüder, so erinnert sich Don Michele, haben sich bis Beginn des 19. Jahrhunderts um die Kirche gekümmert. Die Bürger von Atena jedoch haben, als die Franziskaner weggegangen sind, den heiligen Antonius nicht vergessen. Im Ort lehnt sich Michelina über einen Balkon: Sie war sieben, als sie mit ihren Eltern 1944 in das Pfarrhaus der Kapelle zog. Ihr Vater, bekannt als „Onkel Michele vom heiligen Antonius“, war hier der Mesner und hat ansonsten Weizenähren aufgelesen. „Wir haben von dieser Kirche hier gelebt“, sagt die Frau. Die Kapelle wurde Ende der 40er Jahre geschlossen. Zu dieser Zeit hat sich das ländliche Italien gewandelt: Man zog in die Städte im Landesinneren. Die Alten erzählen, dass viele Soldaten hierher zum heiligen Antonius kamen. Michelina bestätigt das: „Ja, es gab hier ein großes Bild mit Fotos von Soldaten. Sie kamen auch in der Zeit nach dem Krieg. Sie bedankten sich für erhörte Gebete.“ Es gab auch eine Antoniusstatue. Und die gibt es auch heute noch, allerdings in der großen Pfarrkirche im Ort. Jedes Jahr am 13. Juni, zum Antoniusfest, wird sie hinaus aufs Land getragen. Eine einfache, ländliche Prozession, geprägt von tiefer Verehrung. Es sind die Frauen von Atena, die die Statue auf ihren Schultern tragen. „Die Männer wollten sich nicht mehr mit dieser Last abmühen,“ sagt Don Michele. Die Frauen aber wollten den Kult aufrechterhalten. Ivan kommt an dieser Kirche vorbei, wenn er zu seinen Feldern geht. „Ich sehe die Frauen, die hierher kommen, zu Fuß, scheinbar ohne Grund, aber ich weiß, dass sie wegen ihres Heiligen kommen, zu ihrer Kirche.“ Sie lassen Blumen hier, berühren die Tür, sie verweilen ein wenig. Die achtzigjährige Carmela amüsiert sich: „Der heilige Antonius wirkt jeden Tag 13 Wunder. Er klopft mit den Füßen an die Tür, weil er die Hände voller Brot hat. Der heilige Antonius erhört Gebete und wirkt Wunder.“

Zuletzt aktualisiert: 14. Oktober 2018
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