Hoffnung für die Straßenkinder

03. Juni 2021 | von

In Koudougou, in Burkina Faso, werden wir der Kirche vor Ort helfen, sich um verlassene Kinder zu kümmern. So möchten wir dieses Jahr den heiligen Antonius feiern und auf diese Weise uns selbst und auch die Welt außerhalb von Corona wiederentdecken.

Drei Männer und zwei Frauen laufen durch die staubige Nacht von Koudougou, einer Stadt in Burkina Faso in Westafrika. Sie sind vorsichtig, sehen sich häufig um. Sie flüstern Namen, deren Klang in die leeren Häuser, unter Brücken, ja sogar in Autowracks dringt, wo ganze Grüppchen von Kindern schlafen, zusammengekuschelt wie Katzenbabys. Anfangs erschraken die Kinder noch vor diesen Erwachsenen, die so unerwartet nachts erschienen. Beim ersten Geräusch rannten sie auseinander, um sich ein neues Versteck zu suchen. In der Welt der Straßenkinder gelten Erwachsene als gefährlich, falsch, gemein und gewalttätig. Aber die fünf „Engel der Nacht“ bringen ihnen Essen und Decken, sie sprechen mit sanften Worten und haben eine freundliche, zugewandte Art im Umgang mit den Kindern. Es hat einige Zeit gebraucht, bis die Kinder genügend Vertrauen aufgebaut hatten, um diese Menschen als ihre Freunde anzusehen. Mittlerweile wissen sie, dass der „Boss” dieses seltsamen Grüppchens, das immer nachts zwischen 23 Uhr und 4 Uhr in der Frühe unterwegs ist, ein Priester ist und Norbert heißt; zu seiner Gruppe gehören Ordensschwestern, Studenten, Sozialarbeiter – allesamt Ehrenamtliche in ziviler Kleidung. Manchmal ist auch ein älterer Mann dabei, er heißt Joachim Hermenegilde Ouedraogo und ist kein Geringerer als der Bischof von Koudougou, der sich, sobald er seinen Talar abgelegt hat, auf die Suche macht nach seinen verlorenen Kindern der Nacht.

Die Farben neu entdecken

Sicher ahnen Sie, worum es geht, wenn ich diesen Beitrag mit dieser nächtlichen Erzählung beginne: Ich spreche von dem Projekt, das wir Brüder der Antonius-Familie Ihnen zum diesjährigen Antoniusfest am 13. Juni vorschlagen möchten. Und warum genau dort, werden Sie mich vielleicht fragen wollen? Warum Burkina Faso, das so weit weg ist von uns, wo wir doch selbst durch die Pandemie und all das Schlimme, was sie mit sich bringt, durchaus in einige Schwierigkeiten geraten sind? Viele von uns sind ärmer, einsamer, ängstlicher und erschöpfter als noch vor einem Jahr. Aber es ist anders, als man vielleicht denkt. Wir engagieren uns nicht in Koudougou, um uns und Ihnen zu zeigen, dass es Menschen gibt, denen es ja noch viel schlechter geht. Niemand hat das Recht, Not und Schmerz zu messen und zu vergleichen, aber es ist wichtig und in gewisser Hinsicht auch gesund, dass jeder seine eigene Krise überwindet, dass man sich dem Blindsein, der Eingeschränktheit und der Isolierung entgegenstellt. Deshalb bringen wir Sie nach Burkino Faso, was wörtlich übersetzt „Land der aufrichtigen Menschen” bedeutet. Denn indem wir denjenigen helfen, die weit weg sind, ohne jegliche Hoffnung, Menschen, die wir noch nicht einmal kennen, lenken wir unseren Blick wieder auf die Welt und über den Tellerrand unserer eigenen Beschränktheit hinaus. Unter dem Schatten, den Covid über uns alle geworfen hat, sind wir alle irgendwie „graue Kreaturen”, erschreckend gleich, auch wenn uns Inzidenz-Karten farblich sortieren von gelb über orange bis rot. Je dunkler, desto bedrohlicher. Eine künstliche Kategorisierung, in der es nur noch Kranke und Genesene, Ungeimpfte und Geimpfte, Positive und künstlich Beatmete, Opfer und Überlebende zu geben scheint. Und alles dreht sich nur noch um Zahlen, Statistiken, Kurven und Wellen. Ich bin mir sicher, dass der heilige Antonius, wenn er uns so verzweifelt sähe, sich für uns eine neue Welt voller Farben und Buntheit wünschen würde. Eine Welt von Wiederauferstandenen, die fähig sind, sich zu entschließen, Tag für Tag für etwas Gutes zu kämpfen. Eine „Welt der aufrichtigen Menschen”, die in der Lage sind, sich dem Schmerz der anderen zu öffnen, den Verlorenen, die noch nie ein würdevolles Leben hatten.

Reisen unter besonderen Umständen

Und deshalb lade ich Sie ein, mir nach Koudougou in Burkina Faso zu folgen. Diesmal nehme ich kein Flugzeug, um selbst vor Ort zu sein, denn das ist durch die Pandemie natürlich nicht möglich, aber trotzdem sind wir gewissermaßen vor Ort. Ich kann weder den Bischof von Ouedraogu, noch P. Norbert Zombo, den Verantwortlichen für die Straßenkinder, oder Sr. Luigina Cervino, eine Missionarin aus Turin von den Schwestern der Heiligen Geburt, die uns als Erste dieses Projekt vorgeschlagen hat, persönlich und von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Aber ich habe P. Tomasz Kret, der in Sabou in dem nahegelegenen Krankenhaus der Brüder – das war unser Antonius-Projekt im Jahr 2014, erinnern Sie sich? – arbeitet, gebeten, sie an meiner Stelle zu treffen und ihnen unsere Unterstützung zugunsten dieser Kinder zuzusagen.

Viele Helfer an einem Strang

Nun stehe ich kontinuierlich in E-Mail-Kontakt mit Burkina Faso. Sr. Luigina knüpft als Verbindungsglied zwischen uns und den Verantwortlichen vor Ort alle Fäden zusammen. Der Appell von Bischof Ouedraogo erreicht dank ihrer Hilfe mein elektronisches Postfach: „Meine Diözese steht landesweit an zweiter Stelle hinsichtlich der Anzahl verlassener Kinder; das ist eine Notsituation, die unsere ganze Aufmerksamkeit erfordert. Aus diesem Grund habe ich diese Gruppe ins Leben gerufen, die zu der Flüchtlings- und Migrantenseelsorge gehört und von einem Priester geleitet wird, zu der aber auch andere kirchliche und soziale Einrichtungen gehören, die in sich in unterschiedlichen Formen um diese Kinder kümmern. Allen voran die Schwestern der Heiligen Geburt, die bereits einen Kindergarten und eine Schneiderinnenschule für Mädchen betreiben, aber auch Studenten der Psychologischen Fakultät und Sozialarbeiter/innen. Ein so komplexes Problem erfordert die Kompetenzen und den Einsatz aller.“ 

Auf der Flucht vor dem Terror

Viele Gründe haben dazu geführt, dass die Zahl der Straßenkinder rasant angestiegen ist: Einer der aktuellsten davon ist die starke inländische Migrationsbewegung aus dem nördlichen Teil des Landes, wo terroristische Anschläge immer häufiger auf der Tagesordnung stehen. In den Grenzgebieten zu Mali und Niger, in das Niemandsland der Sahel-Wüste, hat in den vergangenen Jahren der islamistische Terror Einzug gehalten und es kommt immer wieder zu heftigen, gewalttätigen Auseinandersetzungen. Nach Berichten von UNICEF gab es im Jahr 838.000 Binnenflüchtlinge, davon sind 61 Prozent minderjährig. Einer der Orte, den die Flüchtlinge bevorzugt ansteuern, ist Koudougou, eine Stadt, die wegen ihrer Lage im östlichen Zentrum des Landes als relativ sicher gilt.

Viele Gründe führen dazu, dass Kinder auf der Straße leben: Entweder wurden sie von ihren Eltern verlassen oder die Eltern sind gestorben. Viele von ihnen sind Kinder von selbst noch sehr jungen, alleinstehenden Frauen. Andere fliehen mehr oder weniger freiwillig vor der Gewalt oder dem Missbrauch in den Familien. Sr. Luigina schreibt dazu: „Ein Grund ist auch die Zersetzung der gewohnten Familienstrukturen, die so typisch ist für die heutige Zeit und die man seit Jahrzehnten auch bei uns in Europa spüren kann.” Aber es sind die wahren Geschichten, die P. Norbert mir erzählt, die mir wirklich ans Herz gehen und mich gewissermaßen unmittelbar spüren lassen, was in Koudougou los ist, ohne dass ich einen Schritt gehen muss.

Unfassbar schreckliche Schicksale

Nadege ist zehn Jahre alt, aber es ist so, als hätte sie schon 100 auf den Schultern. P. Norbert schreibt: „Bis vor ein paar Monaten lebte sie bei einer 80-jährigen Witwe. Die alte Dame erzählte uns, dass die Großeltern des Mädchens versucht hatten, ihre Mutter zu einer Abtreibung zu zwingen. Aber Nadege kam dennoch zur Welt. Daraufhin hat die junge Mutter ihr Kind einfach vor der Tür der Witwe ausgesetzt, die selbst arm und fast blind ist; das Mädchen nennt sie ‚Oma‘. Schon von klein auf war es Nadege, die sich um die Beschaffung von Nahrung gekümmert hat: Sie sammelte Alteisen, das sie dann für umgerechnet 65 Cent pro Kilo verkaufte. An vielen Tagen hatte sie nichts zu essen, und das wenige, das sie auftreiben konnte, gab sie ihrer Oma.‘ Mit dem Tod dieser Witwe fiel Nadege in ein tiefes Loch. Sie trieb sich alleine auf den Straßen und Märkten herum, bis ihr eine Frau eine Arbeit in ihrem Restaurant anbietet. Das war ein Trick, um sie zur Prostitution zu zwingen. Es folgen furchtbare Wochen, in denen das Mädchen versucht, sich aufzulehnen und im Gegenzug Prügel und Schläge bekommt, deren Spuren noch immer auf ihrem kleinen Körper zu sehen sind. Eines Tages übertreibt es ein Mann mit der Gewalt. Das Mädchen wird ohnmächtig in einer Blutlache gefunden. Die Besitzerin des Restaurants, die überzeugt davon ist, dass das Mädchen am Sterben ist, lädt sie ins Auto und legt sie in einer Nebenstraße ab. Dort wird sie von einem Mann gefunden, der das Kind gegen den Willen seiner Frau mit zu sich nach Hause bringt. Bald jedoch wird das Mädchen von der Ehefrau wieder weggeschickt. Nadege ist erneut auf sich alleine gestellt, von Neuem den vielen Gefahren der Straße ausgesetzt. „In der Nacht, als wir sie gefunden haben,” berichtet mir P. Norbert, „schlief sie unter einer Brücke, als einziges Mädchen in einer Gruppe von Jungs. Sobald sie uns sah, haute sie ab, sie war von Männern vollkommen traumatisiert, deshalb hat die Ordensschwester, die mit uns auf Tour war, versucht, einen Kontakt herzustellen. Es hat lange gedauert, bis Nadege uns vertraut hat. Mittlerweile besucht sie mich sogar in meinem Büro. Sie nähert sich den Sozialarbeitern auf der Suche nach ein wenig Nettigkeit und vielleicht einer Umarmung. Es sind Mädchen wie sie, die wir so schnell wie möglich von der Straße holen möchten.”

Auf der Straße: Keine Chance

Mädchen sind sicher gefährdeter, denn meist landen sie in der Prostitution. Aber auch Jungen gehen ein hohes Risiko ein: Sie werden oft von kriminellen Banden aufgegriffen, die sie als Drogenkuriere missbrauchen, oder sie enden als Kindersoldaten für die bewaffneten fundamentalistischen Gruppierungen.

Und wieder nimmt mich P. Norbert „virtuell“ mit auf die Straßen von Koudougou. Auch Djedie ist zehn Jahre alt. Er ist ein Waisenkind. Seine Verwandten hatten begonnen, ihn zu schlagen und ihm nur alle zwei Tage zu essen zu geben und haben ihm auch nicht erlaubt, in die Schule zu gehen wie seine Cousins. Er berichtet: „Ich verkaufe auf dem Markt altes Eisen, das ich hier und dort aufsammle und esse das, was die Restaurants wegwerfen. Ich lebe in einer Gruppe mit 13 anderen Jungs, wir rauchen Zigaretten, nehmen Alkohol und Drogen, um irgendwie den dauernden Hunger zu betäuben. Und doch geht es mir besser hier als bei meinen Verwandten. Manchmal schlafe ich in der Nähe der großen Moschee, manchmal in leeren Eisenbahnwaggons. Im Winter spüre ich die Kälte bis auf die Knochen. Das Leben ist nicht leicht für uns, denn häufig müssen wir klauen und werden geschlagen, wenn wir erwischt werden. Auch die Polizei verfolgt mich, weil ich aus dem Gefängnis abgehauen bin. Was ich mir am sehnlichsten wünsche? Ich würde sehr gerne Mechaniker werden, einen Beruf erlernen, ein normales Leben führen. Letztendlich kann die Straße uns nichts bieten.”

Eine Kirche, die hinaus geht

Auch Bischof Ouedraogo hat ein Gesicht vor seinem inneren Auge, das er nicht vergessen kann, eine Geschichte, die ihn umtreibt: „Ich erinnere mich an die Worte eines Mädchens, das gestorben ist, ohne dass ihre Eltern gefunden werden konnten. Sie sagte vor ihrem Tod zu mir: ‚Diese Gesellschaft will mich nicht und liebt mich nicht. Meine Eltern wollen mich nicht und lieben mich nicht. Und deshalb kann ich auch nicht lieben und kann nicht geliebt werden. Ich denke nicht mehr an die Zukunft, aber ich werde alles tun, um mich an denen zu rächen, die mich nicht lieben.”

Auf die Straße gehen, auf der Suche nach denen, die nicht geliebt werden, und das um jeden Preis: Dies ist der Grundgedanke der eingesetzten Kommission für die Straßenkinder. P. Norbert schreibt: „Für Gott gibt es keinen Menschen, der nicht geliebt werden sollte. Wenn ich diese Kinder treffe, krampft sich mein Herz zusammen und ich versuche, ihnen Freundschaft, Liebe und Freude über die Möglichkeit, sie aus ihrer Situation herauszuholen, zu vermitteln. Für mich und mein Team ist es schwierig und auch gefährlich, ein Kind von der Straße zu holen, denn die Kleinen werden von skrupellosen Menschen ausgebeutet. Aber was hat Jesus denn alles für uns riskiert? Er hat sein Leben hingegeben, um uns zu retten. Ich bin sehr glücklich über die Mission, die mir von Bischof Joachim Ouedraogo anvertraut wurde. Und er lässt uns nicht alleine damit. Er zieht sich an wie wir und kommt mit auf unsere nächtlichen Runden, er unterstützt und ermutigt uns, wie es ein Vater mit seinen Kindern macht.“

Eine Perspektive und zwei Projekte

Sr. Celine Ballo von den Töchtern der Heiligen Geburt, die auch zu der Straßenkinder-Kommission gehört, erklärt uns ihre Pläne für die nächsten Schritte: „Wir Schwestern stellen einen Teil unseres Hauses zur Verfügung, der früher einmal als Internat für Studentinnen genutzt wurde. Dieses Gebäude ist aber in einem sehr schlechten Zustand. Es muss renoviert und an die Bedürfnisse der Mädchen angepasst werden. Wir könnten dort in kürzester Zeit mindestens 30 Mädchen aufnehmen.” Aber es gibt auch ein Projekt, das auf einen längeren Zeitraum ausgelegt ist, komplexer und auch teurer – ein Projekt, das sich erst im Laufe der Jahre entwickeln wird. Der Bischof hat bereits ein Grundstück gefunden, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt. „Es handelt sich um ein Projekt der Aufnahme und der menschlichen Förderung und Berufsausbildung im Bereich Landwirtschaft, also Anbau und Tierzucht,” erklärt Sr. Celine. „Dort wollen wir unsere Nahrungsmittel anbauen und produzieren, was wir zum Leben brauchen, um die Kinder zu ernähren, aber auch das Projekt selbst, indem wir den Kleinen die Möglichkeit geben, sich für etwas Nützliches zu engagieren, und einen Beruf zu erlernen, nachdem wir sie von der Straße geholt haben. Erst am Ende dieses Weges, wenn wir auf etwas sichereren Füßen stehen, können wir auch Kinderheime errichten, um noch mehr Kinder aufnehmen zu können.”

Schritt für Schritt

Bischof Ouedraogo bittet nicht um das Geld, das nötig wäre, um sofort dieses ganze Projekt zu finanzieren, sondern möchte jeden Schritt bewusst gehen und jeweils den nächsten gründlich abwägen. Uns von der Caritas Antoniana, und damit jeden und jede von uns, bittet er nur um das Nötigste: Die Renovierung des Hauses der Schwestern und die Bohrung eines Brunnens auf dem Grundstück, auf dem das landwirtschaftliche Projekt geplant ist. Sr. Celine weiß: „Ein Brunnen hat einen wichtigen symbolischen Wert, er steht für Leben, Neubeginn, Segen. Um den Brunnen herum werden wir nicht nur Gemüse anbauen, sondern auch das Pulsieren des neuen Lebens spüren!“ 

Nachdem Sie jetzt gemeinsam mit mir diese „virtuelle Reise“ nach  Koudougou unternommen haben, wissen Sie, was wir gemeinsam tun können und was für ein Mensch wir sein können, trotz Corona und vieler anderer Schwierigkeiten. Wir sind einzigartige, individuelle Geschöpfe, und doch sind wir miteinander verbunden, klein, aber stark, eingeschränkt und dennoch frei, in einem großen Traum, den Gott mit uns träumt. Gibt es eine bessere Art, in Zeiten der Pandemie das Leben und den heiligen Antonius zu feiern?

Zuletzt aktualisiert: 03. Juni 2021
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