Lieber Bruder Antonius (6)

20. Juli 2020 | von

In den besten Jahren in einer Einsiedelei? Dass Antonius in der Abgeschiedenheit von Montepaolo landet, könnte man durchaus als „Ende auf dem Abstellgleis“ betrachten. Doch sein Lebensweg ist noch lange nicht am Ende. Er wird noch gebraucht und springt auch tatsächlich ein, als ein Prediger benötigt wird. 

Der Anlass für das aktuelle Jubiläumsjahr liegt im Jahr 1220. Du entscheidest dich, den Orden der Augustiner-Chorherren zu verlassen und dich der Gemeinschaft der Minderen Brüder anzuschließen. Wir sind dir nach Marokko gefolgt, haben dein Scheitern miterlebt – der Traum vom Martyrium ist geplatzt an der eigenen Krankheit. Wir haben dich in Sizilien wiedergefunden, sind mit dir gemeinsam nach Assisi zum Mattenkapitel gezogen und sehen dich nun in der Einsiedelei von Montepaolo. Du bist in Italien unbekannt, deine Mitbrüder wissen kaum etwas von dir. Du bist noch der Fremde und vielleicht auch noch immer nicht ganz gesund und angekommen in dieser neuen Welt. Aber du scheinst dieses Leben nun so anzunehmen, wie es ist. Du fügst dich ein in die Ordnung, die es in der Einsiedelei gibt. Vielleicht gehört das zu deiner Lebenskunst: Etwas annehmen, wie es ist (und nicht so, wie man es gerne hätte) und versuchen, das Beste daraus zu machen. 

Und ganz bestimmt hast du auch irgendwie eine Gesetzlichkeit des Lebens verinnerlicht: Leben ist im Wandel, ist der ständigen Veränderung unterworfen. Und auch für dich bedeutet die Einsiedelei ja nicht die Endstation – vielmehr: Es ist eine weitere Etappe auf deinem Lebensweg, der letztlich der Vollendung entgegen geht. 
Wie deine Geschichte weitergeschrieben wird, das weiß wohl am besten dein Biograf selbst zu berichten. Er schreibt: „Nach langer Zeit – etwa einem Jahr – geschah es, dass einige Brüder in die Stadt Forlì geschickt wurden, um dort die heiligen Weihen zu empfangen. Dazu kamen aus verschiedenen Gegenden Franziskaner und Dominikaner zusammen. Unter ihnen befand sich auch Antonius.
Als die Stunde kam, da ein geistlicher Vortrag angesetzt war, und die Brüder sich wie gewohnt versammelt hatten, bat der zuständige Provinzialminister die anwesenden Predigerbrüder, eine Bußpredigt zu halten, um den dürstenden Seelen das Wort des Heils zu verkünden. Einer nach dem anderen aber wehrte ab und sie behaupteten, dass es ihnen weder möglich noch erlaubt sei, unvorbereitet zu predigen. So wandte sich der Obere schließlich an Antonius und trug ihm auf, den Versammelten das zu verkünden, was der Geist ihm eingab. 
Er tat dies nicht etwa, weil er glaubte, dass er besonders bewandert in den Heiligen Schriften sei oder etwas anderes gelesen habe außer dem, was den kirchlichen Dienst betrifft: Der Obere erinnert sich nur daran, dass er ihn einmal Latein hatte sprechen hören, als es notwendig gewesen war. Und tatsächlich war es ja auch so, dass die Brüder ihn für geeigneter hielten, das Geschirr in der Küche zu spülen als die Geheimnisse der Schrift auszulegen – obwohl er die Gabe hatte, sich seines Gedächtnisses anstelle von Büchern zu bedienen und in großem Maß die Gnade einer mystischen Sprache besaß.
Warum soll ich mich unnötig aufhalten? Antonius weigerte sich, solange er konnte. Schlussendlich aber und weil alle drängten, begann er in aller Bescheidenheit zu sprechen. Als dann jene Feder des Heiligen Geistes, seine Zunge also, begann, über viele Themen mit Besonnenheit zu sprechen und zwar in überaus klarer Sprache und mit knappen Worten, da lauschten die Brüder voller Erstaunen und Bewunderung in höchster Aufmerksamkeit seiner Rede. Wahrhaftig: Die unerwartete Tiefgründigkeit seiner Predigt steigerte noch die Verwunderung. Sein Geist, mit dem er sich äußerte, und seine glühende Nächstenliebe erbauten die Herzen. Erfüllt von heiliger Ergriffenheit verehrten alle in Antonius, dem Diener Gottes, die Tugend der Demut Hand in Hand mit der Gabe der Weisheit.”

Ich kann mir diese Situation wahrhaft bildlich vorstellen. Denn das, was damals in Forlì geschehen ist, ist sicherlich kein einmaliges Vorkommnis. Immer wieder geht es so: Eine Arbeit fällt an, etwas muss getan werden – nur es findet sich keiner. Da werden alle möglichen Ausreden und Begründungen gebracht: Ich habe keine Zeit. Ich bin nicht vorbereitet. Es gibt Bessere als mich. Jetzt sollen mal die Jüngeren ran. Ich fühle mich nicht gut. Mir fehlt die Erfahrung. Oder was auch immer... Aber die Aufgabe will nun trotzdem getan werden. Einer muss es machen. 
Mich hat das erinnert an eine Führung, die ich vor etlichen Jahren im Kloster der Mariannhiller Missionare in Würzburg mitmachen durfte. Auf einem großen Transparent stand dort ein Satz, der mich seitdem immer wieder einmal beschäftigt hat: „Wenn keiner geht, dann gehe ich!” Und uns wurde erklärt, dass dieser Satz wohl das Lebensmotto des mittlerweile seliggesprochenen Paters Engelmar Unzeitig war. Er wurde 1911 geboren, trat der Gemeinschaft der Mariannhiller Missionare bei, übernahm als Priester die Seelsorge einer als schwierig geltenden Pfarrei und wurde wegen seiner kritischen Äußerungen gegen die NS-Diktatur im April 1941 von der Gestapo verhaftet. Im KZ meldete er sich freiwillig zur Pflege der Schwerstkranken und starb am 2. März 1942 in Dachau. 
„Wenn keiner geht, dann gehe ich!“ – Weil keiner predigen wollte und alle Ausreden schon gefallen waren, hast du dein Weigern schließlich aufgegeben. Du warst bereit. 

Bestimmt kannst du in diesem Augenblick zurückgreifen auf deine theologischen Studien als Augustiner-Chorherr. Ganz sicher hast du auch ein angeborenes Talent, etwas zu formulieren, in gute Worte zu kleiden und damit die Zuhörer zu berühren. Und du scheinst wohl auch schöpfen zu können aus einer ganz tiefen Spiritualität, die in dir gewachsen ist. 
Deine Predigt jedenfalls schein ein voller „Erfolg” zu sein. Von Applaus berichtet dein Biograf nicht – aber davon, wozu Verkündigung wohl im eigentlichen Sinn führen soll: Die Herzen werden erbaut, Menschen werden zu Größerem hingeführt. Sie kommen Gott näher.

Und du, Antonius, du kommst dem näher, wofür du heute vor allem bekannt ist: Als wortgewaltiger Verkündiger, als Prediger, der die Massen in Bann zog, bist du in den Heiligenkalender aufgenommen. 
Aber je mehr ich über dein Leben nachdenke, desto mehr erkenne ich, dass es bis zu diesem „Höhepunkt” ein langer Weg war. Auch in deinem Leben gab es immer wieder Sackgassen. Manche Träume musstest du lassen, dich abfinden damit, dass Sehnsüchte nicht erfüllt wurden. Aber du bist auf dem Weg geblieben. Du hast nicht aufgegeben. Und das fasziniert mich bis heute. 
Im Buch Deuteronomium schärft Mose dem Volk Israel einmal ein: „Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott, dich während der vierzig Jahre in der Wüste geführt hat...” (Dtn 8,2). Dieser Satz hilft mir, im Leben nicht alles an Augenblicken und Momentaufnahmen festzumachen. So manche Schwierigkeit und so manches Glück sieht im größeren Kontext oft ganz anders aus. Und vor allem in den schweren Phasen meines Lebens kann mir diese Perspektive wohl helfen: Mensch, denk an den ganzen Weg. Der Augenblick ist nicht alles. Er ist wichtig, aber er steht in einem größeren Zusammenhang. Und wer weiß, was noch entstehen kann, was sich einmal daraus entwickeln wird. 
Freilich, heute darf auch einmal gefeiert werden. In Forlì gibt es ein Fest. Du hast einen wichtigen Teil dazu beigetragen –hast weit mehr „geliefert” als zu erwarten war. Herzlichen Glückwunsch – und ebensolche Grüße. Bis zum nächsten Mal,
 

Impuls für meinen eigenen Weg:
Kann ich das auch in meinem Leben sagen: „Wenn keiner geht, dann gehe ich?” Wo ruft Gott mich, mein Weigern zu überwinden, meinen Widerstand aufzugeben? Welche neue Welt könnte sich mir auftun, wenn ich beherzt den nächsten Schritt tue?

Zuletzt aktualisiert: 20. Juli 2020
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