Marsch in den Tod

27. Januar 2020 | von

Es ist ein Euphemismus, eine sprachliche Beschönigung, die ihresgleichen sucht. Bei aller Erinnerungskultur an die unfassbaren Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und dessen Ende vor 75 Jahren bleiben die „Todesmärsche“ aus den Konzentrationslagern, sofern sie denn überhaupt erwähnt werden, oft nur eine Nebenbemerkung. Ausführliche Studien sind Mangelware. Und so scheint das euphemistische Wort „Evakuierung“ der KZs aus dem Jargon des Nazideutschland ein kaum überbietbarer Zynismus zu sein. Durch eine Evakuierung sollen Menschen in Sicherheit gebracht werden. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs waren die „Evakuierungen“ der frontnahen KZs, die die SS nach und nach räumte und auflöste, zumeist genau das Gegenteil: der Marsch in den Tod.

Abgemagert, erschöpft, schutzlos
Das Ende des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs stand kurz bevor. Die Truppen der Alliierten trafen im Westen ein, die Rote Armee der Sowjetunion drang im Osten vor, überquerte im Sommer 1944 die Weichsel und näherte sich den dortigen Konzentrationslagern, den Orten des Grauens. Allein in Auschwitz kamen 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen auf grausamste Weise um. Wer nicht schon an Krankheiten, an Unterernährung oder Erschöpfung starb, wurde erschossen oder vergast. Arbeitslager wurden spätestens jetzt zu Vernichtungslagern. Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz befreite, fand sie dort aber nur noch 7.000 zurückgelassene Häftlinge vor, von denen viele trotz medizinischer Hilfe bald verstarben. Die etwa 60.000 anderen Häftlinge wurden wenige Tage zuvor von der SS aus dem Gebiet „evakuiert“. Abgemagert und der Kälte schutzlos ausgesetzt, trieben die SS-Leute die Inhaftierten zig, ja hunderte Kilometer zu Fuß nach Westen. Pausen oder Proviant gab es nicht. Wer hinfiel oder nicht mehr konnte, wurde ohne Zögern erschlagen oder erschossen. Die Leichen wurden am Wegrand, im Wald oder auf dem Acker verscharrt, manche andere einfach liegengelassen. „Rechts und links war alles voll mit Leichen. Frauen, Kinder, Männer, es waren nur Leichen“, erinnert sich einer, der es überlebt hat. 

Hunderttausende Tote
Auch wenn das KZ Auschwitz am 27. Januar befreit worden war – das Todesleiden von abertausend dort internierten Menschen ging weiter. Wer von den Häftlingen in den marschfähigen Truppen die Bahnhöfe Gleiwitz oder Loslau noch erreichte, wurde in offene Viehwaggons gepfercht. Ziel: das nächste KZ in Gebieten, die noch unter deutscher Kontrolle standen, wie etwa Dachau, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Flossenbürg oder Ravensbrück. Die Häftlinge litten an Sauerstoff- und Nahrungsmangel und erfroren zu hunderten. Allein auf den Todesmärschen von Auschwitz gehen Schätzungen von etwa 9.000 bis 15.000 Toten aus. Von den insgesamt 750.000 Konzentrationslagerhäftlingen, welche die verschiedenen, erst noch geordneten, dann immer hektischeren und chaotischeren Todesmärsche in den letzten Monaten des Krieges antreten mussten, wurden etwa 200.000 bis 350.000 Menschen ermordet. Erst durch die Alliierten konnten die Toten der Todesmärsche von Ost nach West, von West nach Ost und schließlich von Nord nach Süd exhumiert und auf neu errichteten Friedhöfen und Gedenkstätten würdig bestattet werden. Wer den Befehl zur Räumung der Konzentrationslager und zu diesen Verbrechen der Endphase des Kriegs gab, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Möglicherweise befahl Heinrich Himmler schon im Juni 1944, die KZ-Häftlinge nicht einfach in die Hände der alliierten Befreier fallen zu lassen. So erhielten die höheren Führer von SS und Polizei die Befugnis, Evakuierungen anzuordnen, wenn Angriffe unmittelbar bevorstanden. An das KZ Flossenbürg erging im April 1945 wohl seine Weisung, die Internierten keinesfalls lebend der US-Armee zu überlassen.

Vor aller Augen
Der Historiker Martin Clemens Winter macht auf den beschämenden Umstand aufmerksam, dass die Ermordungen während der Todesmärsche flächendeckend und vor den Augen der Bevölkerung geschahen. Der Massenmord der Konzentrationslager, hinter hohen Mauern und Stacheldraht, wurde nun zum Massenmord in der Öffentlichkeit und zu einem „öffentlichen Gemeinschaftsverbrechen“. Die lokale Bevölkerung sah hin und sah zu und wurde zu einem Teil des Geschehens. Die Häftlingskolonnen durch Dörfer und Städte und die überfüllten Güterwaggons wurden als Bedrohung wahrgenommen. Winter sieht einerseits das Bemühen um Aufarbeitung und Etablierung einer Gedenkkultur, aber andererseits auch den Hang zum Verdrängen der Mehrheitsgesellschaft, dass die Todesmärsche nicht ausschließlich der SS zugeordnet werden können.
Auch wenn die letzten Überlebenden der Konzentrationslager und Todesmärsche der barbarischen NS-Zeit bald verstorben sein werden: Die würdige und schonungslose Erinnerung an die Verantwortung unseres Landes bleibt ein elementarer Auftrag.

Zuletzt aktualisiert: 27. Januar 2020
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