Plastik, überall Plastik

01. Juli 2019 | von

Einem aktuellen Thema widmen sich die ersten Seiten unserer Sommerausgabe: der Vermüllung der Meere, den unendlichen Plastikbergen, den Müll-Exporten und der Illusion hoher Recyclingquoten. Der Beitrag will Augen öffnen, aber auch zu kleinen Schritten ermutigen.

Sie hieß Steffi. Meine langjährige Banknachbarin ab der 10. Klasse im Gymnasium. Wir waren irgendwo unterwegs mit der Schule, eine Klassenfahrt oder ähnliches. Auf dem Weg lag ein kleines Bonbon-Papierchen. Und weil ich bezüglich Abfall streng erzogen bin – bei uns zu Hause wurden Joghurtbecher nicht nur ausgespült, sondern sogar die Aluränder des Deckels fein säuberlich abgetrennt und gesondert sortiert – bückte ich mich, um das Papierchen aufzuheben und in den nächsten Mülleimer zu schmeißen. „Spießer!“ musste ich mich für diesen kleinsten Akt des Umweltschutzes vor etwa 20 Jahren nennen lassen.
Steffi heißt nun Rebekka, Teilnehmerin einer Jugendfahrt, die ich im Frühsommer angeboten hatte. Beim Spaziergang durch die Stadt: vor unseren Füßen eine leere Plastikflasche. Rebekka bückt sich, entsorgt die Flasche fachgerecht. Kein Spießer, nirgends. Ich jubiliere: Hat sich da nicht wirklich was getan!

Sortieren wie die Weltmeister 
Und jedes Mal, wenn ich in den vergangenen Jahren im Ausland war, und dort bei unseren Brüdern beobachte, wie wenig die Sensibilität für das Thema „Müll“ ausgeprägt ist, regte sich bei mir der Stolz auf unsere deutsche Gründlichkeit. Immerhin wurde bei uns schon zu Beginn der 90er-Jahre mit dem „Grünen Punkt“ ein System eingeführt, das dafür Sorge tragen soll, dass aus verbrauchten Verpackungen neue Rohstoffe gewonnen werden. Neben dem Papier, das dem Recycling zugeführt wird, müssen so auch Plastikflaschen, Aludosen und Süßigkeitenverpackungen nicht einfach verbrannt, sondern können ordentlich sortiert werden, was die Deutschen mit Hilfe von „Gelbem Sack“ oder „Wertstoffhöfen“ dann auch fleißig praktizieren. Das Bundesumweltministerium nennt eine Recycling-Quote von rund 80 Prozent – übrigens inklusive gewerblichem Müll und Industrieabfällen. Somit werden Jahr für Jahr über 200 Millionen Tonnen Müll nicht einfach verbrannt oder irgendwo deponiert, sondern irgendeiner Form der Wiederverwertung zugeführt. Dass jede/r Deutsche Jahr für Jahr allein 220 Kilogramm Verpackungsmüll zu verantworten hat, wird angesichts solcher hoher Wiederverwertungsquoten zum vermeintlichen Nebenthema.

China schließt die Grenzen
So richtig stutzig wurde ich erstmals im vergangenen Jahr. Da hieß es plötzlich, dass China seine Grenzen für Plastikabfälle geschlossen hätte und wir keinen Müll mehr in die Volksrepublik exportieren könnten. 
Müll-Export nach China? Eine einfache Internet-Recherche genügt, um herauszufinden, dass die Welt bis zum vergangenen Jahr 56% des gesamten Kunststoffabfalls nach China verschiffte. Die EU-Staaten brachten es sogar auf 87%! Für alle Beteiligten ein gutes Geschäft: Wir sind unseren Müll los und die Chinesen schaffen für ihre Recyclingfabriken eine optimale Auslastung und machen mit dem Verkauf des gewonnenen Materials als „Sekundärrohstoff“ einen ordentlichen Gewinn. Doch offensichtlich landeten in China immer mehr stark verunreinigte Kunststoffreste, die nicht mehr verwertbar sind und nur die dortigen Müllberge wachsen lassen. So verhängte die chinesische Führung nach und nach einen Importstopp auf immer mehr Stoffe – zur Freude der Entsorgungsunternehmer hierzulande. Dr. Michael Scriba von mtm plastics aus Niedergebra ist froh, dass die „Exportorgie nach Asien“ aufgehört hat und die Ankaufpreise für Plastik um etwa die Hälfte nach unten gingen. Wertvolles Material wird nun wieder hierzulande sortiert und recycelt – der übrige Kunststoffdreck sucht sich andere Abnehmerländer. Alles also wieder im Lot?

Recycling als Augenwischerei?
Dr. Henning Friege, Umweltwissenschaftler und Nachhaltigkeitsberater, stellt fest: „Der Kreislauf ist bei vielen Abfällen nur Fiktion.“ Recycelte Kunststoffe mögen zwar für Parkbänke oder Blumenkübel verwendet werden: Bei Lebensmittelverpackungen sind die Hygieneanforderungen allerdings so hoch, dass nur hochwertiges Material in Frage kommt. Thomas Obermeier von der Deutschen Gesellschaft für Abfallwirtschaft nennt die offiziellen Recycling-Quoten ohnehin „Augenwischerei“. Statt von 80% geht er von 30-40% aus. Denn die Bundesregierung erfasst die Müllmenge, die an den Recycling-Anlagen angeliefert wird, ohne exakt zu verfolgen, wie der Müll dann tatsächlich verwertet wird. Fehlwürfe (z. B. Hausmüll) und Kunststoffgemische werden beispielsweise meist verbrannt. 

Mensch als Plastikfresser
Große mediale Aufmerksamkeit hat eine neue Studie des WWF (World Wide Fund For Nature) im vergangenen Juni erreicht, dessen Überschrift in der deutschen Zusammenfassung die Folgen des hohen Plastikverbrauchs auf den Punkt bringt: „Plastik verunreinigt die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, und die Lebensmittel, die wir verzehren.“ Zitiert wird in diesem Zusammenhang eine Studie der australischen University of Newcastle, die feststellt, dass der Mensch im globalen Durchschnitt pro Woche fünf Gramm Plastik aufnimmt – in etwa das Gewicht einer Kreditkarte. 
In den 1950er Jahren wurden jährlich etwa 1,5 Millionen Tonnen Plastik produziert. Heute sind es fast 300 Millionen Tonnen weltweit. Seit dem Jahr 2000 liegt die jährliche Wachstumsrate bei vier Prozent, Recycling hin oder her: Immer mehr Plastik, immer mehr Müll. Durch unsachgemäße Entsorgung landet etwa ein Drittel des Plastikmülls in der Umwelt. 

Winzig kleine große Umweltlasten
Vermüllte Straßengräben oder Autobahnparkplätze, im Wald illegal entsorgter Haushaltsmüll – solch unsachgemäße Entsorgung ist mit bloßem Auge auch für Otto Normalverbraucher ohne weiteres erkennbar. Dass Plastik als Mikroplastik (Plastikteilchen mit einem Durchmesser von 5mm und weniger) auch Luft und Trinkwasser belastet, ist hingegen weit weniger bekannt. Die Langzeitwirkungen auf den Menschen sind selbst von Experten noch nicht ausreichend erforscht. 
Besonders weit weg in der Wahrnehmung sind die Meere. Touristenstrände werden mit immer mehr Aufwand vom Urlaubermüll gesäubert – bis zu 18.000 Plastikteile schwimmen nach Schätzungen der UN jedoch auf jedem Quadratkilometer Wasseroberfläche. Ging man in den 1980er Jahren noch davon aus, dass diese kleinen Teilchen nur wenig bis gar keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt haben, schlägt man mittlerweile Alarm. 

Schwimmende Mülldeponien
Plastik im Meer hat eine Haltbarkeit von bis zu 450 Jahren. Es wird nur langsam zersetzt, von Meerestieren aufgenommen – und zieht, so Experten, andere Schadstoffe gleichsam an wie ein Magnet. Oben auf der Meeresoberfläche ist nur die Spitze des Eisbergs zu sehen. Knapp über 90% sinkt auf den Meeresboden. Der Naturschutzbund Deutschland schätzt, dass das Plastik im Meer jährlich bis zu 135.000 Meeressäugern und einer Million Meeresvögeln den Tod bringt: Tiere verhungern mit vollen Mägen, wenn Plastik den Verdauungsapparat verstopft. Im Magen eines im März 2019 obduzierten Cuvier-Schnabelwals wurden 40 kg Plastikabfall gefunden. 
Forscher sprechen im Zusammenhang der Meeresverschmutzung mittlerweile von „Müllstrudeln“, gewissermaßen schwimmenden Mülldeponien. Seit dem Jahr 1997 wird der „Große Pazifische Müllteppich“ beobachtet. Auch wenn die Größenangaben des betroffenen Gebiets stark variieren (doppelt so groß wie Texas, doppelt so groß wie die USA, Größe von West- bzw. Mitteleuropa): Die Partikelkonzentration liegt in diesem „Müllstrudel“ bei ca. einer Million Plastikteilchen pro Quadratkilometer und damit zigfach über dem oben erwähnten weltweiten Meeresdurchschnitt. 

Zahlreiche Plastikquellen 
Woher das ganze Plastik kommt? Sicherlich nicht allein von achtlos weggeworfenen Bonbon-Papierchen. Die amerikanische Fachzeitschrift Science gibt als Hauptverursacher die Länder China, Indonesien, Vietnam und die Philippinen an. Wenn man dann wiederum bedenkt, dass bis vor wenigen Monaten ein Großteil europäischen Plastikmülls genau in China landete, würde es kaum verwundern, wenn auch unser Plastikmüll im Meer landet und die blanke Schuldverschiebung nach Fernost die Wahrheit stark verzerrt. Weiterer Müll stammt von weggeworfenen „Geisternetzen“ aus dem Fischfang oder Ladungsverlusten von Containerschiffen: 60.000 Turnschuhe verlor im Mai 1990 ein Frachtschiff auf dem Weg von Hongkong nach Tacoma, zwei Jahre später gingen bei einem anderen Frachter 29.000 Spielzeugtiere über Bord. Reifenabrieb oder Plastikpartikel in Kosmektikprodukten, die über die Abwassersysteme schließlich im Meer landen, sorgen für eine weitere Erhöhung der Plastikkonzentration.

Vermeidung und Plastikverbot
Und die Lösung des zunehmend bedrohlichen und bewussten Problems? Ein wesentlicher Schritt wäre sicher der rasche Ausstieg aus der immer noch wachsenden Müllmenge hierzulande. Man müsste endlich begreifen, dass die eigentliche Lösung nicht erst im Recycling liegt, sondern bei der Müllvermeidung beginnt. Und immerhin haben die Deutschen in den vergangenen vier Jahren ihren Verbrauch an Plastiktüten um etwa die Hälfte reduziert – eine Veränderung, die ermutigt! Gleichzeitig können 320.000 weggeworfene Coffee-To-Go-Becher pro Stunde (!) schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen, ebenso wie oft sinnlos verpacktes Obst und Gemüse im 
Supermarkt: Wozu brauchen Bananen eine Plastikverpackung? 
Angebliches Bio-Plastik hat übrigens einen zweifelhaften Ruf. Zur Verrottung im Kompostwerk ist es nicht geeignet und landet entsprechend meist dann doch im Hausmüll, um anschließend verbrannt zu werden. 
Das EU-weite Verbot von Einwegplastikgeschirr und Plastikstrohhalmen ab 2021 mag zwar von manchen als Symbolpolitik belächelt, von anderen als Regulierungswut gebrandmarkt werden: Sicherlich trägt es zu einer immer besseren Sensibilisierung bei. Der Schutz der Meere und unserer Umwelt, die Vermeidung von Müll beginnt ganz konkret vor Ort bei jedem Einzelnen.
Wer Plastik allerdings verteufelt, sollte seine Argumente gut abwägen: Forscher für „Ökobilanzierung“ stellen fest, dass eine Baumwolltasche erst dann ökologischer ist als eine Plastiktüte aus wiederverwertetem Kunststoff, wenn sie über 80 Mal gebraucht ist. Und Lebensmittelhändler erinnern daran, dass die dünne Kunststofffolie um eine Gurke deren Haltbarkeit deutlich verlängert und so wiederum einen Beitrag leisten kann, unnötiges Wegwerfen von schnell verdorbenen Lebensmitteln zu reduzieren. Was ist jetzt also richtig?

Mit Technik Meere säubern
Was den Schutz der Meere betrifft, bieten vielleicht auch Pilotprojekte und technische Versuche einen kleinen Hoffnungsschimmer. Einige Küstenstädte belohnen Fischer, die aufgefischten Plastikmüll im Hafen abliefern, mit Geldprämien. Unter dem Schlagwort The Ocean Cleanup wollte der junge Niederländer Boyan Slat auf Plastikjagd gehen. Mit Hilfe einer bogenförmigen Konstruktion und unter Ausnutzung der natürlichen Strömung des Ozeans sollen Plastikteile gesammelt werden. Nachdem eine Machbarkeitsstudie Aussicht auf Erfolg des Systems verhieß und eine Crowdfunding-Kampagne die nötigen Geldmittel aufbrachte, musste man im Januar 2019 allerdings einen Rückschlag verdauen: Der Praxistest machte deutlich, dass an der Konstruktion noch technische Veränderungen nötig sind – und schließlich brachten Materialermüdungen das Projekt zu einer vorläufigen Zwangspause. 
Die Designerin Katharina Unger hingegen forscht an einem Pilz. Der Fungi Mutarium verwandelt nach einigen Wochen kleine Mengen Plastik in essbare Biomasse, die nach Auskunft der innovativen Forscherin neutral wie Tofu schmeckt. Der FOCUS vermutet gar: „Auf einem Teller mit Goldrand drapiert, würden Menschen in Berlin-Mitte sicher 20 Euro dafür zahlen.“ Obendrein könnte man mit dieser Methode dem weltweiten Hunger Einhalt gebieten. 
Bis solche oder ähnliche technische Errungenschaften und biologische Ideen tatsächlich so weit sind, die Umweltsünden der vergangenen Jahrzehnte gut zu machen, muss man sich vielleicht noch weiter auf ehrenamtliches Engagement verlassen. Der nächste World Cleanup Day ist für den 21. September 2019 festgesetzt. Die Organisatoren rechnen mit knapp 20 Millionen Menschen, die sich in etwa 160 Ländern einen ganzen Tag lang um die Reinigung von Küstenabschnitten und Straßengräben kümmern. Vielleicht nur ein Tropfen im Ozean – aber ganz sicher besser als nichts. 

P.S.: Und die Cellophanhülle, in die Monat für Monat der Sendbote eingewickelt wird? Auch für uns in der Redaktion ein Ärgernis. Wir kämpfen weiter dafür, dass die Direktion in Padua das künftig ändert. 

Zuletzt aktualisiert: 01. Juli 2019
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