Smaragdgrüne Träume im Lepradorf

25. Mai 2011 | von

Im Auftrag seines Ordens reiste der italienische Minoritenpater Giorgio Abram im Februar 2009 (wir berichteten im Sendboten, September 2010) in die vietnamesische Leprasiedlung Van Mon, um das diesjährige Hilfsprojekt der Caritas Antoniana vorzubereiten. Er war erschüttert angesichts der bleiernen Atmosphäre, in der Verstümmelte, obwohl geheilt, in Lethargie und Isolation verharren.



Ich schließe die Augen und denke an Vietnam, ein Vietnam, wie ich es kennengelernt habe. Sofort kommen mir zwei Konzepte in den Sinn: das „Drinnen“ und das „Draußen“. Das „Draußen“ ist das Chaos von Hanoi mit seinen Straßen, die von Menschen wimmeln, verstopft von Abertausenden Mofas, die sich hupend Platz verschaffen. Das „Drinnen“ ist ein Ort jenseits von Zeit und Raum, umgeben von einem doppelten Mauerring, wo die Stille einzig durch das Summen der Insekten durchbrochen wird. „Draußen“, das ist das leuchtende Grün der Reisfelder, die emsige Betriebsamkeit in den armen Dörfern. „Drinnen“ vergeht die Zeit langsam, hier herrscht die Unbeweglichkeit der von Lepra gezeichneten Körper. Ich habe diese beiden Welten binnen ganz kurzer Zeit kennengelernt und bin aus ihnen gezeichnet hervorgegangen, ein anderer für immer. Meine Mitbrüder haben mich nach Vietnam gerufen, um ein Projekt für Leprakranke in Thai Binh zu betreuen. Der Ort liegt 250 Kilometer von der Hauptstadt entfernt und entspricht der alten Leprakolonie Van Mon, in der noch immer 900 Kranke leben. „Komm her, wir brauchen hier deine Erfahrung!“, lautete ihre Bitte. Und ich bin vertrauensvoll aufgebrochen, in dem Bewusstsein, zu wissen, was mich erwarten würde. Schließlich habe ich dreißig Jahre lang in Ghana, wo ich als junger Missionar eingesetzt war, gegen die Lepra gekämpft.

Ich kannte den Feind, ich hatte ihm oft ins Auge geblickt, zu einer Zeit, da er noch als unbesiegbar galt. Für die Menschen war die Krankheit eine Art Fluch, den ihre Vorfahren an sie weitergegeben hatten. Sie glaubten, ein verstümmelter, verletzter Körper sei das Gefäß für eine schwarze Seele. Ein Tabu, das einen Menschen für den Rest seines Lebens zeichnet. Der Kranke sonderte sich ab, gab sich ganz seiner Krankheit hin, wurde zynisch und aggressiv. Und ich kämpfte für diese Menschen, auf der einen Seite meine Ratlosigkeit, auf der anderen Seite ihr Schmerz. Ich sagte mir: „Der heilige Franziskus hat gegenüber dem Leprakranken vielleicht das Gleiche empfunden wie ich. Es ist keineswegs leicht, den Armen und den Kranken zu umarmen, es ist nicht leicht, die eigenen Ängste zu bezwingen und das Antlitz Gottes hinter dem, was man mit bloßem Auge sieht, zu erkennen.“  Und dann gab es auf einmal eine Therapie, die die Krankheit verschwinden lässt, den Verstümmelungen vorbeugt – nur, was nützt so eine Therapie, wenn man eh ein Verdammter ist? Es hat viele Jahre der geduldigen Begleitung gebraucht, um Lepra zu einer Krankheit unter vielen anderen zu machen, einer Krankheit, die man zu Hause behandeln kann, inmitten der anderen und ohne Ausgrenzung.

 

Zwei Welten, ein Mitleid

Angesichts der beiden hohen Mauern Van Mons schrumpfte jedoch meine bisherige Erfahrung zu einem Nichts zusammen, so, als wäre die Zeit nie vorangeschritten. In der lähmenden Atmosphäre fiel mir auf, dass die Eingangstore ohne Gitter waren, dass aber keiner es wagte, einfach zu kommen und zu gehen. Ich stand an der Grenze zu der grauen Insel, die Kranke von Gesunden trennt, ähnlich der, wie sie Dante in einem der Höllenzirkel seiner „Göttlichen Komödie“ beschreibt. Das „Drinnen“ meilenweit entfernt vom „Draußen“. Ich habe meine so schön am Schreibtisch ausgearbeiteten Pläne für das Projekt zerrissen und betrat Van Mon wie ein Neuling. Empfangen wurde ich von dem freundlichen, aber wachsamen Direktor. Ich Priester, er Atheist, ein Offizier der kommunistischen Regierung. Eine Geschichte, viel größer als wir, lastete auf uns, Jahrzehnte voller Abneigung gegenüber jeglicher Religion. Ich erwartete ein: „Was willst du denn von mir, Priester?“, aber nach einem langen Gespräch sagte der Atheist zu mir: „Die Religion und die Freiwilligen sind wichtig für meine Leute, letztendlich bestehen wir aus Körper und Seele.“ Wir kamen aus zwei ganz unterschiedlichen Welten, und doch einte uns ein Mitleid, das stärker war als alle Unterschiede.

In Van Mon arbeitet ein Arzt, die Regierung „unterstützt“ die Kolonie mit ungefähr neun Dollar pro Monat und Kopf. Mit diesen dürftigen Mitteln ist es nicht leicht, die notwendige Menge an Nahrung und medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Aber das, was am meisten schmerzt, ist das totale Verlassensein, das Gefühl, an allerletzter Stelle in der Welt zu stehen.



Ausgeheilt und ausgebrannt

Bop wartet seit 20 Jahren auf den Besuch seines Bruders, er ist hier, seit er neun Jahre alt ist und hat seine Familie in der ganzen Zeit erst einmal gesehen. Nun ist er 70. Die Lepra hat ihn entstellt, er ist blind und humpelt. Er wartet auf das Ewige Leben, um die Sonne wieder sehen zu können. Eine winzige Alte mit verstümmelten Gliedmaßen liegt auf ihrer Strohmatte und jammert: „Auf diesem Bett ist meine beste Freundin gestorben, ich hoffe, dass der Herr auch mich bald holt.“ In diesen Zimmern mit den vielen Betten und den vielen verstümmelten Körpern ist das Einzige, was mir ein wenig Trost gibt, die Ordnung, mit der die wenigen persönlichen Gegenstände liebevoll arrangiert wurden. Jedes Lager ist wie ein kleines Zuhause, für manchen ist es geradezu ein Nest, in das er sich verkriecht, eine Wiege für die verstümmelte Seele. Hier verbringen die meisten fast den ganzen Tag damit, vom Grün der Reisfelder außerhalb der Mauern zu träumen. Ich bemerke, und darin habe ich ja Erfahrung, dass keiner mehr von ihnen krank ist. Sie sind alle, wie man so schön sagt, „gebrannte Kinder“, die Krankheit hat ihren Verlauf genommen, hat die typischen Verstümmelungen hinterlassen, ist aber besiegt. Es ist also nicht mehr die Lepra, die hier geheilt werden muss, sondern die Wunden an Seele und Körper verlangen nach „Medizin“.

Aber das, was mich am meisten mitnimmt, ist das Schicksal der Kinder. Sie bewegen sich an diesem Ort für alte Menschen wie Schiffbrüchige. Es sind ungefähr 60, zwischen zwei und zwölf Jahren alt, die gesunden Kinder oder Enkelkinder der Kranken. Oftmals wurden sie von den Eltern zurückgelassen, die auf der Suche nach Arbeit weit weg ziehen mussten. Hier hat jemand, der die Spuren der Lepra trägt, keine Chance auf eine Zukunft. Es gibt kein wirksames Medikament gegen Vorurteile. Besonders ein kleines Mädchen, die fünfjährige Vivian, fällt mir auf: Sie ist die einzige mit entstelltem Gesicht und schuppiger, faltiger Haut. Man sagt mir, dass das nicht Lepra sei, sondern die Auswirkungen des Nervengases Agent Orange, das im Vietnamkrieg von den Amerikanern benutzt wurde. Die Mutter, selbst an Lepra erkrankt, hat sie und ihren Zwillingsbruder, der an derselben Krankheit leidet, einfach in der Station zurückgelassen. In dieser Gefühlsfinsternis hat die Kleine einen Freund gefunden, vielleicht eine Art Vaterersatz. Es ist ein schweigsamer, einsamer Mann, von der Lepra und vom Alter gezeichnet. Alle nennen ihn nur „Bankok“, denn er kommt aus Thailand, ist also Ausländer. Einer meiner Mitbrüder, Joseph, der oft hierher kommt, erzählt mir: „Einmal war Vivian sehr unruhig und ging allen auf die Nerven. Ich nahm sie auf den Arm und wir besuchten Bankok. Er war unnahbar wie immer, aber seine dunklen Augen leuchteten. Vielleicht kam mir das auch nur so vor, aber seit diesem Tag besucht ihn Vivian häufig, und jedes Mal sieht er sie lange an und nimmt ihre Hand. So bleiben sie lange beieinander sitzen, ohne zu sprechen. Vivian beruhigt sich, und Bankok erfreut sich nun an einem kleinen Stück leuchtendem Grün inmitten des Graus von Van Mon.“  



Die Kluft überwinden

Ich beobachte Vivian und begreife, wie viele Geschichten der Zerstörung jeder hier mit sich herumträgt. So viele Familien sind zerbrochen. So vieles ging verloren. Ich frage mich, was wir Brüder für diese Menschen hier tun können. Materielle Hilfe ist wichtig, um das medizinische Angebot ausbauen zu können. Aber vor allem muss die Kluft zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ überwunden werden, es müssen Brücken gebaut werden, damit das herrlich leuchtende Grün der vietnamesischen Reisfelder Einzug halten kann in Van Mon. Der Atheist und ich schauen uns in die Augen: Wir haben beide dasselbe Ziel!





Das Projekt in Kürze



Errichtung eines medizinischen Zentrums mit 60 Betten  zur Versorgung der Leprakranken und Prävention. Unter seinem Dach wird das Pflegepersonal gezielt geschult für die Diagnose und Behandlung der Lepra. Angeschlossen ist eine orthopädische Werkstatt. In dem zweistöckigen Gebäude sollen auch ein Hort und eine Schule für Kinder eingerichtet werden, um ihnen eine soziale Eingliederung in die Welt jenseits des Lepradorfes zu ermöglichen.



Gesamtkosten: 250.000 Euro.



Zuletzt aktualisiert: 05. Oktober 2016