Über Erinnerung stolpern

19. Dezember 2022 | von

Seit 30 Jahren wird gestolpert: Fast 100.000 Stolpersteine sind zum Gedenken an von den Nationalsozialisten umgebrachte Juden mittlerweile verlegt worden. Sie halten die individuelle Erinnerung an Menschen wach, die der grausamen Tötungsmaschinerie der Nazis zum Opfer fielen.

Mindelheim, 26. Mai 2015. Tragende, fast melancholische Melodien eines Klarinettisten und einesSaxophonisten leiten die Gedenkstunde am Marienplatz, dem zentralen Platz der Stadt, ein. Dann ergreift Bürgermeister Dr. Stefan Winter das Wort und erklärt, dass die Stadt Mindelheim die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden und anderer Personengruppen im Nationalsozialismus lebendig halten möchte. Sie hat sich deswegen entschlossen, an der Aktion „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig teilzunehmen. Der Künstler ist selbst anwesend und erklärt seine Kunstaktion mit einem Zitat aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Daraufhin kniet er sich nieder und fügt die Steine für Jakob, Fanni und Werner Liebschütz in den Gehsteig ein. Mit getragenen Melodien findet die Gedenkstunde ihren Abschluss, an der ich selbst teilnehmen konnte.

Individuelle Würdigung

Stolpersteine werden in Handarbeit hergestellt. Das ist dem Künstler Gunter Demnig sehr wichtig. Durch die Handfertigung der Gedenktafeln soll jedes einzelne Opfer als Individuum gewürdigt werden – im Gegensatz zu ihrer massenhaften Hinrichtung in den Konzentrationslagern, wo sie nur noch als Nummern gezählt wurden. Auf die 96x96 mm großen Messingplatten werden von Hand Name und Lebensdaten der Opfer eingraviert und mit einem Einführungstext „Hier lebte...“ oder „Hier wirkte...“ versehen. Die Messingplatten werden mit Beton hintergossen und bewusst vor dem letzten frei gewählten Wohnort der Opfer in den Gehsteig eingelassen. Die Beispiele in Mindelheim machen ebenso deutlich, dass der Künstler aller Opfergruppen des Nationalsozialismus gedenken möchte. Hier werden sowohl die jüdische Familie Liebschütz als auch der als KPD-Mitglied politische Verfolgte Jakob Grünwald gewürdigt.

Gedenken vor Ort

Die Anfänge der Aktion liegen in Köln und gedenken der Deportation von 1.000 Sinti und Roma. Am 16. Dezember 1992, dem 50. Jahrestag des Befehls Heinrich Himmlers zur Deportation der Sinti und Roma, verlegte Gunter Demnig einen ersten Gedenkstein vor dem Historischen Rathaus der Stadt Köln. Auf der Messingplatte waren allerdings keine Namen, sondern die Anfangszeilen des sogenannten „Auschwitz-Erlasses“ zu lesen. Zunächst plante der Künstler ein theoretisches Konzept für die Veröffentlichung „Größenwahn – Kunstprojekte für Europa“. Doch der evangelische Pfarrer der Antonitergemeinde in Köln konnte Demnig 1994 dafür gewinnen, Stolpersteine in seiner Kirche auszustellen und im Januar 1995 erste Steine in Köln zu verlegen. Diese Verlegungen in Köln und 1996 auch in Berlin waren ohne Genehmigung der Behörden erfolgt. Die erste Verlegung mit behördlicher Genehmigung fand im österreichischen St. Georgen bei Salzburg statt. Seit dem Jahr 2000 werden Stolpersteine auch in Deutschland mit Genehmigung der Behörden gesetzt.

Der Künstler Gunter Demnig verfolgt mit seiner Kunstaktion ein zweifaches Anliegen. Zum einen möchte er der Opfer des Nationalsozialismus mit ihren Namen gedenken, zum anderen will er ihre Namen wieder an den Orten bekannt machen, an denen sie ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Dieses dezentrale Gedenken ist eine große Stärke dieser Kunstaktion, „denn sie lassen die Deutschen ein ums andere Mal über die nationalsozialistischen Verbrechen ‚stolpern‘ und halten so die Erinnerung an die Opfer wach“ (Zitat von Anne Will bei der Verleihung des Marion-Dönhoff-Förderpreises 2012).

Verbreitung und Kritik

Seit den Anfängen in Köln ist das Projekt europaweit gewachsen. Im April 2022 verlegte Demnig den 90.000. Stolperstein. Inzwischen beteiligen sich 29 europäische Länder an der Aktion. In einer Chronik listet Gunter Demnig selbst die Gemeinden und Städte auf, in denen er selbst oder Mitglieder seines Teams Gedenksteine verlegen (www.stolpersteine.eu). Neben den Stolpersteinen verlegt der Künstler inzwischen auch Stolperschwellen (100 cm x 10 cm), um ganzer Opfergruppen zu gedenken, z.B. am Hauptbahnhof in Stralsund der 1.160 psychisch kranken Menschen, die im Rahmen der Aktion T4 vom Naziregime ermordet wurden.

Eine der heftigsten Gegnerinnen des Projekts Stolpersteine ist Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie findet es „unerträglich“, dass auf den Namen von ermordeten Juden „herumgetreten“ werde. Durch ihre entschiedene Gegnerschaft hat sie erreicht, dass in der Stadt München auf städtischem Grund keine Stolpersteine verlegt werden, sondern auf andere Weise der ermordeten Juden gedacht wird. Andere Städte, die eine Verlegung ablehnen, berufen sich meist auf ihre Kritik. Andere prominente Juden, u.a. auch der aktuelle Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben sich hingegen für das Kunstprojekt „Stolpersteine“ ausgesprochen: Die dezentrale Verlegung und die namentliche Nennung der Opfer bringen die Menschen zum Hinschauen und lassen Geschichte lebendig werden.

Zuletzt aktualisiert: 19. Dezember 2022
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