Verkünder inmitten der Vielfalt

01. Januar 1900 | von

Verfälscher der Botschaft Jesu bezeichnen ihn die einen, Begründer des Christentums nennen ihn andere. Die Rede ist von Paulus. Sein Einsatz für die Verkündigung des christlichen Glaubens ist so gut wie von keinem anderen Apostel dokumentiert: durch seine eigenen Briefe und durch die Apostelgeschichte des Lukas. Und mit keiner anderen urchristlichen Persönlichkeit ist so eng der Grenzen und Kulturen überschreitende Schritt verbunden, der den christlichen Glauben aus dem kleinen Palästina in die weite Welt des griechisch-römischen Imperiums hinausführt.

Erbe zweier Kulturen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Mann, der dem christlichen Glauben neue und fremde Ufer erschließt, aus der jüdischen Diaspora kommt, dass ihn gleichsam von Geburt an zwei Kulturen prägen. Am ausführlichsten nimmt Paulus im Philipperbrief auf seine jüdische Herkunft Bezug: Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt (Phil 3,5f). Aus der Apostelgeschichte wissen wir, dass sein Elternhaus in Tarsus in Kilikien stand (Apg 21,39; 22,3). Im Jahr 66 v.Chr. war Tarsus von den Römern zur Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien gemacht worden. Da wichtige Straßen von der Küste Kleinasiens nach Syrien und zur Küste des Schwarzen Meeres sich in Tarsus kreuzen, blühte der Handel auf. Auf dem fruchtbaren Boden um die Stadt wurden Getreide, Wein und Flachs produziert. Der Flachs bildete den Rohstoff für die Industrie der Gegend, die Leinenweberei. In dieser wohlhabenden und als Regierungssitz bedeutenden Provinzstadt verbringt Paulus seine Kindheit und Jugend. Der doppelte Name – Saul und Paulus (Apg 9,4; 13,9) – verweist auf die beiden Kulturen, in denen der junge Paulus aufwächst. Der hebräische Namen Saul belegt, dass in der Familie des Paulus die aramäische Sprache gepflegt wurde. Und dies wiederum ist ein Hinweis darauf, dass seine Familie erst seit wenigen Generationen Palästina verlassen hat und in der Diaspora lebt. Jüdisches Elternhaus und griechisch-römische Stadt, das sind die Welten, die Kulturen, die den heranwachsenden Paulus prägen.

Umwerfendes Ereignis. Immer wieder ist die Bekehrung des Paulus erzählt worden. Allein Lukas erzählt dreimal in der Apostelgeschichte von diesem – im wahrsten Sinne des Wortes – umwerfenden Ereignis (Apg 9; 22; 26). Paulus selbst schreibt im Brief an die Galater eher unspektakulär, was die Gemeinden von Judäa nun von ihm hören: Er, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er früher vernichten wollte (Gal 1,23). Aus dem Eiferer für das Gesetz wird der rastlose Missionar, der die Botschaft vom rettendem Wirken Gottes in Jesus Christus in der ganzen damaligen Welt verbreiten will. Eine tiefe Erfahrung und Erkenntnis treibt ihn an: Gott selbst hat in Jesus die Grenzen überwunden, die Menschen zwischen sich aufrichten. Im Epheserbrief ist diese Erkenntnis in folgende Worte gebracht worden: Denn er (Christus Jesus) ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet (Eph 2,14-16). Von dieser Erfahrung erfüllt wendet sich Paulus nun an alle Menschen.

Missionsansatz Inkulturation. Im ersten Korintherbrief hinterlässt uns Paulus wertvolle Einblicke in seine Verkündigungstätigkeit. Seine Vorgehensweise beschreibt er im neunten Kapitel mit folgenden Worten: Da ich also von niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten (1 Kor 9,19-22). Die Worte des Paulus können als Pragmatismus oder Opportunismus missverstanden werden. Doch er ist sicher über jeden Verdacht erhaben, anderen nach dem Mund reden zu wollen. Es geht ihm, positiv gewendet, um Akkommodation. Das Wort der Botschaft soll den Hörer in den Lebensumständen treffen, in denen er sich befindet, es soll ihm verständlich werden (H.J. Klauck). Inkulturation – dieser moderne Begriff kann auf die Missionsweise des Paulus angewandt werden.

Der christliche Verkünder Paulus versuchte sich in Menschen mit anderem kulturellen und religiösen Hintergrund hineinzuversetzen. (Paulus übergibt einen Brief, Miniatur).

Illustrierung durch Lukas. Was Paulus in wenigen Worten als seine Verkündigungsweise skizziert, finden wir in der Apostelgeschichte des Lukas öfter in Erzählungen dargestellt. Dramatischer Episodenstil wird diese Vorgehensweise des Lukas von den Fachleuten genannt. Paulus selbst erwähnt nur knapp, dass er allein in Athen zurückgbleibt, als er seinen Mitarbeiter Timotheus wieder nach Thessaloniki zurückschickt (1 Thess 3,1). Diese kurze Notiz vom Aufenthalt des Paulus in Athen wird in der Apostelgeschichte von Lukas in einer Erzählung entfaltet. Lukas war nicht Augenzeuge dieser Begebenheiten, denn Paulus betont, dass er allein in Athen zurückgebleibt. Doch Athen, im ersten nachchristlichen Jahrhundert immer noch die Stadt der Bildung und Kultur, war dem griechisch gebildeten Schriftsteller Lukas vertraut. Welche Erfahrungen Paulus in Athen gemacht haben könnte, das illustriert Lukas nun einfühlsam in der Apostelgeschichte.
Während Paulus in Athen auf sie wartete, erfasste ihn heftiger Zorn; denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern. Er redete in der Synagoge mit den Juden und Gottesfürchtigen, und auf dem Markt sprach er täglich mit denen, die er gerade antraf. Einige von den epikureischen und stoischen Philosophen diskutierten mit ihm, und manche sagten: Was will denn dieser Schwätzer? Andere aber: Er scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein. Er verkündete nämlich das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. Sie nahmen ihn mit und führten ihn zum Areopag und fragten: Könnten wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du vorträgst? Du bringst uns befremdlich Dinge zu Gehör. Wir wüssten gern, worum es sich handelt. Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören.

Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. [...] Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art. [...] Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, spotteten die einen, andere aber sagten: Darüber wollen wir dich ein andermal hören. So ging Paulus aus ihrer Mitte weg. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig, unter ihnen auch Dionysius, der Areopagit, außerdem eine Frau namens Damaris und noch andere mit ihnen (Apg 17,16-23.28.32-34).

Wahrnehmen und Anknüpfen. Uns interessiert im Folgenden, wie sich Paulus in Athen verhält, wie er auf die vielen fremdartigen Erfahrungen reagiert, wie er sein Anliegen, die Verkündigung der christlichen Botschaft, in diesem Zentrum des Wissens, der Kultur und Bildung verwirklicht. Die Erzählung des Lukas lässt folgende Schritte erkennen.
Es fällt auf, und Lukas betont es immer wieder, wie Paulus zunächst bewusst wahrnimmt: die Heiligtümer und Götzenbilder in der Stadt, den Altar für den unbekannten Gott; er bemerkt das Interesse der Athener an Neuigkeiten. Auch seine eigene erste Reaktion, einen heftigen Zorn, übergeht er nicht. Und hier wird schon deutlich: Die persönliche Ergriffenheit und Überzeugung bedarf einer Dämpfung und Abmilderung, um nicht durch unkontrollierte Verurteilungen und Ausbrüche weitere Kontakte zu gefährden. Anders gesagt: Es ist zweckdienlich, Ersturteile zu kontrollieren, Urteilsgeschwindigkeiten zu verlangsamen (A.-P. Alkofer).
So vorbereitet knüpft Paulus Gesprächskontakte. Diese gehen in zwei verschiedene Richtungen. In der Synagoge sucht er den Kontakt mit Menschen, denen der Gott der Bibel vertraut ist beziehungsweise die ihn mit Interesse suchen. Ein Heimspiel für den Juden Paulus. Doch er traut sich ebenso auf den Marktplatz und tritt in Kontakt mit Menschen, die seinen Glauben nicht teilen, deren religiöse Einstellung er häufig zunächst einmal im Gespräch erkennen muss. Die tägliche Auseinandersetzung sucht er auch durch das Gespräch mit den führenden Köpfen im damaligen Athen, den epikureischen und stoischen Philosophen. Auf dem Areopag, Inbegriff antik-hellenistischer Bildung und Kultur, stellt er sich ihren Fragen. Paulus hat dort ein Auswärtsspiel, um im Jargon der Fussballwelt zu bleiben. Gesprächsbewegung in beide Richtungen - Synagoge und Marktplatz - ist ein kennzeichen für den Paulus der Apostelgeschichte wie für den der Paulusbriefe.

Dialog trotz Ablehnung. Ein weiteres ist anzufügen: Im Gespräch lernt Paulus von seinen Gesprächspartnern. Er hört auf ihre Lebenserfahrungen, ihre Denk- und Glaubenswelten. Anders könnte er nicht das Gedicht Phaenomena des stoischen Dichters Aratos von Soloi (3. Jh. v.Chr.) aufnehmen, daraus wörtlich zitieren und es dann für seine Argumentation verwenden. Daran kann deutlich werden: das Gespräch, das Paulus sucht, ist kein Monolog, sondern ein Dialog. Auch Paulus ist Lernender - und das täglich, wie Lukas eigens hervorhebt.

Paulus bringt seine eigene, die christliche Botschaft zu Gehör. Selbstbewusst stellt er sich in die Mitte des Areopags und verkündet den Gott der Bibel. Er knüpft an den Erfahrungen der Athener an, um ihnen den christlichen Glauben einsichtig zu machen. Doch gerade in unserer Zeit, in der Erfolg oft die einzige Messlatte für eine Bewertung darstellt, sollte auch das Ende der Episode des Paulus in Athen nicht überlesen werden. Die Apostelgeschichte verschweigt nicht die unterschiedlichen Reaktionen auf die Predigt des Paulus: Spottende Ablehnung, distanzierende Skepsis und bereite Aufnahme seiner Botschaft von einigen Wenigen. Diese Offenheit für unterschiedliche Reaktionen ist von großer Bedeutung; sie zeugt von der Achtung vor der Freiheit des anderen.

Global und multikulturell. Wenn wir den Text der Apostelgeschichte aufmerksam lesen, können wir feststellen, dass die Lebenswelten damals und heute durchaus verwandte Erfahrungen mit sich bringen. Globalität und Multikulturalität, die heutige Gesellschaft prägen, sind auch im antiken römischen Imperium auffindbar. Was Paulus mit den christlichen Verkündigern von heute verbindet: Sie müsssen ihre Botschaft in Konkurrenz zu vielen Weltanschauungen und Religionen zu Gehör bringen. Sie bewegen sich in neuen Räumen (Marktplätzen, Bühnen, Talk-Shows), die ihnen zunächst fremd sind. Zugespitzt gesagt: Die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen bringen die Kirche wieder zurück an ihre Ursprünge. Sie ist herausgefordert, in der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der heutigen geistig-kulturellen Welt ihre Botschaft vom liebenden und befreienden Handeln des biblischen Gottes zu verkünden.
Eine lange Zeit ist verstrichen, bis die Kirche den Verlust ihrer Vormachtstellung in Glaubensfragen in der Neuzeit angenommen hat. Papst Johannes XXIII. hat mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils entscheidendes für die Öffnung und Neuorientierung der katholischen Kirche geleistet. Er hat Fenster und Türen der Kirche geöffnet, um wieder mit den Menschen von heute ins Gespräch zu kommen. Der dialogisch angelegte Missionsgrundsatz des Paulus, allen alles zu werden (vgl. 1 Kor 9,22), klingt wieder neu und zukunftsweisend an in den Eröffnungssätzen der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände (Gaudium et Spes 1).

Dieser Beitrag verdankt Anregungen dem Aufsatz von P. Dr. Andreas-Pazifikus Alkofer, In ihr leben wir, bewegen wir uns und sind wir ... Anstöße und Gaben einer an- und aufregenden Welt.

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016