Zeit für dich ist Zeit für mich

01. Mai 2019 | von

Zum Ehrenamt ist es nie zu spät. Davon ist unser Autor überzeugt.

Wer hat in Ihrem Leben eigentlich das Sagen? Meine Antwort: Auf jeden Fall vor allem die anderen. Auf deren Kalender muss ich mein Planen ausrichten. Der Arzt, die Physiotherapie, der Friseur, die Familie, das Jubiläum eines Freundes −alle machen sich wichtig. Und sie sind es ja vielleicht auch. Verpflichtungen einzuhalten gehört zu einem guten Miteinander. Wenn alles nur nach Lust und Laune gehen würde, wären viele Begegnungen nicht möglich. Dann beschleicht mich manchmal der Gedanke: Lebe ich noch? Oder werde ich gelebt?
Sich die Freiheit nehmen
Bei so vielen Pflichten stellt sich leicht die Frage: Wo bleibt die Freiheit? Natürlich, es gibt sie, die süßen Pflichten. Der Geburtstag des Freundes, der Hochzeitstag, der Kindergeburtstag und was es sonst noch an schönen Feiertagen gibt, an denen man gern teilnimmt. Aber dann gibt es auch die Pflichten, die einem zugewachsen sind: Die Nachbarin wird sechzig, da wird man die Einladung ja wohl nicht ausschlagen. Oder der Ehepartner, der eingeladen ist und nicht allein kommen soll: Ach, man tut Vieles aus Liebe, was einem vielleicht gerade nicht schmeckt. Doch dann gibt es auch noch eine dritte Form der Verpflichtung: Die Freiheit, das zu tun, was das eigene Herz ohne jeden äußeren Verpflichtungsgrund weitet. Eine Entschiedenheit, die aus dem Herzen kommt und ganz dem Herzen entspricht. Etwa, etwas zu tun, was der eigenen künstlerischen Ader, der sozialen Ader, der musikalischen Ader, der kommunikativen Ader, der gesellschaftlichen Ader entspricht. 

Ehrenamt verändert
Das ist gar nicht so leicht. Denn vor lauter Pflichten im Alltag gerät aus dem Blick, was ich eigentlich auch einmal gern tun würde. Ich bin so fest und verlässlich in äußeren Notwendigkeiten und Abläufen eingebaut, dass ich mich gar nicht erst getraue, mein Herz zu befragen. Der Grund dafür ist klar: Wenn ich wählen würde, was ich auch gern einmal von mir aus täte, müsste ich mich von einigem Gewohnten verabschieden. Und das betrifft sofort andere Menschen. Nachbarn. Familienmitglieder. Wenn ich mich hinsetze und ein Engagement plane, was nur aus mir kommt und mich hinausführt aus meinem Alltag, dann bin ja nicht nur ich es, der sich verändert. Was bis jetzt selbstverständlich war, lasse ich nun sein. Da fehlt dann jemand. Deshalb vermeiden viele, sich neu mit einer ehrenamtlichen Aufgabe das Leben bunter zu machen. Sie möchten nicht stören. Aber der Preis ist hoch: Ich mache in den von mir geforderten Aufgaben weiter, obwohl mein Herz ganz woanders ist. Klar, es braucht eine Treue in den Verpflichtungen, die ich für meine Nächsten habe. Doch was unbedingt auch zum Leben gehört: Sich zu erlauben, mit dem Herzen dem schönen Gedanken nachzuhängen, endlich einmal das zu tun, was es immer schon gern tat. Wer daraus eine Tat werden lassen will, sollte wissen: Zur Planung eines ehrenamtlichen Engagements gehört das ehrliche Gespräch mit Partner und Familie und Freunden: Ich möchte nun das und das beginnen. Und das bedeutet für euch: Ich habe weniger Zeit für euch, ihr müsst euch neu organisieren. Das kann ganz schön stören. Aber sagen Sie selbst: Sollen wir uns erst verändern, wenn es uns der Arzt verschreibt?

Lust auf neue Erfahrungen 
Nein, denn jeder soll über seine Zeit herrschen. Jeder kann und soll sich selbst fragen: Tue ich auch etwas in meinem Leben, was außerhalb meiner Familien- und Arbeitswelt wirklich stimmig ist für mich? Und wenn nicht, was würde mir liegen? Jemanden, den ich noch nicht kenne, einmal in der Woche anrufen? Einem anderen zu assistieren beim Einkaufen? Auf dem Spielplatz regelmäßig für Ordnung sorgen? Die Friedhofshalle pflegen? Blumen in der Kirche arrangieren? Einem Sterbenden nahe sein? Die Begleiterin einer Schwangeren sein? Es gibt so viele Möglichkeiten, sich anderen zur Verfügung zu stellen. Wer mit offenen Sinnen durch die Welt geht, wird spüren, wo es ihn hinzieht. Und wird vielleicht selbst überrascht sein, dass die eigene Lust am Lesen plötzlich zu einer Lesepatenschaft in einem Kindergarten wird. Oder die eigene Lust am Kontakt mit fremden Menschen ihn zum Austräger einer Zeitschrift macht oder zu einer grünen Dame oder einem grünen Herrn im Besuchsdienst eines Krankenhauses. In vielen Landkreisen und größeren Städten gibt es eine Ehrenamtsbörse, wo man beraten wird, was einem liegen könnte. 

Es wollen mich mehr als ich denke
Wer seinem Herzen nur einen Moment Raum gibt, wird ahnen, was darin an ungelebtem Leben schlummert. Sich beim Laientheater ausprobieren oder im Chor, in einer Malgruppe oder als Lektor in der Kirche − das wäre doch was! Aus dem dumpfen Gefühl: „Niemand will mich!“ wird die Lust, anzuklopfen, sich anzubieten, auszuprobieren. Wichtig dabei ist: Jeder Kontakt, der so entsteht, ist zunächst zeitlich begrenzt. Mal dreimal etwas tun und sich dann verabschieden dürfen, weil es vielleicht nicht passt. Das ist doch nur menschlich. Niemand muss sofort das Richtige finden. Und wenn die eine Tätigkeit nicht passt, dann vielleicht eine andere. Das ehrenamtliche Engagement lebt von der Freiheit. Wichtig auch: Nicht beleidigt sein, wenn man selber sich ganz passend findet, aber dann andere einem sagen, dass man besser Abstand nehmen sollte von dem, was man sich da gerade ausgesucht hat. Das ist dann keine Ablehnung. Ich weiß, dass viele sich genau davor fürchten und dann lieber daheim sitzen bleiben. Ein kritisches Wort ist doch vielmehr eine Hilfe, noch besser zu erkennen, was einem liegt und was nicht. Wenn einer singt, obwohl er wie ein Rabe krächzt, sollte man ihn nicht erdulden, sondern dem Raben eher sagen, er solle sich einer Gruppe anschließen, die ein Auge für Glänzendes hat – wenn Sie verstehen, was ich meine.

Neue Willkommenskultur notwendig
Die meisten Vereine sind offen für neue Anfragen zu einem ehrenamtlichen Engagement. Denn da engagieren sich schon Ehrenamtliche, oft seit Jahren. Leider erwecken sie oft nicht diesen Eindruck. Wer von Ihnen schon Mitglied eines Vereins ist, kann ja mal ausprobieren, ob er zustimmt, wenn ich sage: Das sind keine eingeschworenen Gemeinschaften, sondern eine Gruppe von Menschen, die andere mit offenen Armen aufnehmen. Die sich stören lassen wollen. Die dreimal im Jahr offene Informationsabende anbieten. Die eine Telefonnummer haben, wo jemand sogar anonym mal fragen kann, wie und wo man mitmachen kann. Die Mitgliedschaften auf Zeit anbieten. Die eine einladende Broschüre haben. Und einen Vorstand, in dem alle drei Jahre mindestens zwei neue hineingewählt werden, und dessen Vorsitzende/r laut Satzung nach zwei Amtsperioden nicht wiedergewählt werden kann. − O je, da sind viele Vereine noch hintendran. Ich kenne Vereine, die sich sehr beklagen, dass immer weniger mitmachen, aber wenn einer mitmachen will, dann muss er das natürlich so machen, wie die anderen es immer schon gemacht haben, das Kuchenbacken, Modelleisenbahnbauen, Gartenpflegen oder Kircheputzen.

Ehrenamtliche sind Helden der Liebe
Wer sich einlässt auf den Mitmenschen, den ganz Anderen, den Fremden, und wenn er schon Jahre mit mir in einer Straße wohnt, der kann nur gewinnen. An Erfahrung. An Horizont. An Kontakten. Ehrenamtlich sich verpflichten, aus ganzem Herzen, und tun, was einem aus dem Herzen kommt: Dann wird Zeit für dich zur Zeit für mich. Klar: Wer sich einsetzt, setzt sich aus. Holt sich auch mal Blessuren. Und lernt neue Dimensionen des Lebens kennen. Als Christ gewinne ich aus dem Wort von der Kreuzesnachfolge Jesu die Kraft, im Einsatz für den anderen nicht nur Schönes zu erwarten. Enttäuschungen und Misserfolge gehören zum Miteinander der Menschen. Ehrenamtliche sind Helden der Nächstenliebe; sie geben nicht die Hoffnung auf, dass keiner in seiner Not allein bleiben muss, dass zum Leben viel mehr gehört, als voneinander nur Gewinn im materiellen Sinn zu erwarten. Ehrenamtliche sind Helden der Weltliebe: Sie kümmern sich um die Natur, um ausgesetzte Tiere, um die politische Willensbildung, den gesellschaftlichen Fortschritt; sie schöpfen Freude aus der Erfahrung einer Gemeinschaft, die viel, viel weiter ist als die, die man per Familie oder enger Nachbarschaft geerbt hat.

Heute noch anfangen
In Frankfurt am Main sind über 50 Ehrenamtliche im Schatten der Liebfrauenkirche im Franziskustreff der Kapuziner engagiert. Aus sehr unterschiedlichen Gründen sind sie gerne Helfer am Frühstückstisch für obdachlose Menschen. Wer sich bei uns vorstellt, um seine Zeit zu spenden, merkt schon bald, wie sehr auch unsere Gäste etwas spenden, nämlich Aufmerksamkeit für dieses Gutsein und Dank dafür, dass sie wirklich wie Gäste am Tisch bedient werden. Fünf Ehrenamtliche sind in jeder Tagesschicht eingesetzt, dazu zwei oder drei Hauptamtliche. Die Ehrenamtlichen sollen das tun können, wofür sie morgens um 6.30 Uhr kommen und mittags um 12.30 Uhr gehen: Kaffee ausschenken, obdachlosen und armen Menschen das Frühstück servieren, das Gespräch mit ihnen suchen, ein Kontakt für sie sein zur bürgerlichen Gesellschaft. Für den Dienst werden sie vorbereitet durch ein ausführliches Einführungsgespräch, einen Erste-Hilfe-Kurs, einen Arbeitsschutzkurs und durch Deeskalationstraining. Ein Ehrenamtlichenausflug oder eine Feier zum Geburtstag gehören auch dazu. Wenn Sie irgendwo anfangen wollen, erkunden Sie sich, wie man sich um Sie kümmert. Ob Hospizarbeit, Telefonseelsorge oder Hilfe beim Deutschen Roten Kreuz: Sie werden gut begleitet werden. Und wenn nicht, dann fordern Sie es ein.

Der Dank ist der schönste Lohn
Allen Unkenrufen zum Trotz: Dankbarkeit ist noch längst nicht ausgestorben. Das erfahren viele, die sich getraut haben, mal etwas ganz anderes zu machen. Außergewöhnlich fand ich, dass ich in einer Sprachschule in Indien Deutsche traf, die sich ehrenamtlich als Deutschlehrer einsetzen. Oder in einem Kinderdorf in Peru mitarbeiten. Ehrenamt geht ja auch weltwärts. Schauen Sie einmal auf der Internetseite www.betterplace.de, wofür sich Menschen engagieren. Manche sagen rundheraus, sie wollten in ihrem Rentnerdasein weitergeben, was sie empfangen hätten. Lassen Sie sich davon inspirieren. Geben Sie Ihrem Leben eine neue Farbe. Wollten Sie nicht immer schon mal mit einem Hund spazierengehen? Rufen Sie beim Tierheim an! Können Sie Blumen pflegen? Übernehmen Sie ehrenamtlich eine Grabpflege auf einem Friedhof in Ihrer Nähe und nutzen Sie die Zeit dafür, sich an der Natur zu erfreuen! Telefonieren Sie gern? Dann lassen Sie sich aufnehmen in eine Telefongemeinschaft, die anderen die Freude eines wöchentlichen Anrufes macht! Es lohnt sich, heute noch aufzubrechen und Zeit zu verschenken, Lebensfreude und eine spezielle Fertigkeit. Schauen Sie sich um: Gehen Sie auf einen Mitmenschen zu. Einen Verein. Eine Einrichtung der sozialen Hilfe. Und bieten Sie Ihre Zeit an. Sie werden merken: Jesus wusste, was er sagte, als er davon sprach, dass diejenigen empfangen, die geben. Und Antonius von Padua auch: „Unsere Sprache ist eindringlich, wenn unser Tun redet. Ich beschwöre euch daher: Lasst doch euren Mund verstummen und eure Taten reden.“ Ehrenamt ist Zeitspende. Wer ehrenamtlich arbeitet, hat sich einen Teil der Lebenszeit reserviert, über die er allein herrschen will. Ehrenamt ist Freiheitspflege. Wir sind entschiedene Zuteiler von Lebenszeit für etwas, was uns am Herzen liegt. Und meine Oma hat schon gesagt: Vom Teilen ist noch keiner arm geworden. Noch einmal ein Wort von Jesus: Was du ausstreust auf fruchtbarem Boden, bekommst du hundertfach wieder. Also, liebe Leserin, lieber Leser: Worauf warten Sie, wenn Sie noch nicht das Ehrenamt ausüben, das Sie immer schon gereizt hat? Sie werden viel dafür zurückerhalten.

Zuletzt aktualisiert: 01. Mai 2019
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