Aus den Stuben, über die Sterne

22. Oktober 2009 | von

 Dass Lesen Spaß macht und die Fantasie beflügelt, wissen nicht alle Kinder. Denn in vielen Familien wird weder gelesen noch vorgelesen. So bleibt manchem Kind die magische Welt der Bücher verborgen. Eine Aktion, die wieder mehr Lust am Lesen wecken soll, ist der bundesweite Vorlesetag am 13. November, initiiert von der Stiftung Lesen und der Wochenzeitung DIE ZEIT.



 Politiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg und Frank-Walter Steinmeier, Moderatoren wie Gundula Gause und Johannes B. Kerner, Schauspielerinnen wie Ann-Kathrin Kramer und Grit Boettcher nahmen sich Zeit: Die Liste der prominenten Teilnehmer und Teilnehmerinnen des bundesweiten Vorlesetages 2008 war lang. Wer wird dieses Jahr dabei sein? Lassen wir uns überraschen. Noch viel länger aber ist die Liste der nicht-prominenten Männer und Frauen, die regelmäßig ihre Zeit spenden und Kindern in Kindergärten oder Grundschulen vorlesen, nicht nur an einem solchen Aktionstag.



Kein Bezug zu Büchern



Früher galt es als selbstverständlich, dass Kinder mit Geschichten aufwuchsen. Mal war es die vorgelesene Gute-Nacht-Geschichte vom Papa, mal die Märchenerzählung der Oma. Heute ist das anders. In vielen Familien ist der Alltag so hektisch, dass zum Vorlesen weder Zeit noch Muße bleiben. Zudem gehören die heutigen jungen Eltern einer Generation an, in deren Kindheit der Fernseher an Bedeutung gewann und Bücher weniger wichtig wurden. Sie sind nun schlechte Vorbilder, was das Lesen angeht. Andere Kinder kommen aus Migrantenfamilien, in denen nicht auf Deutsch gelesen wird.



Was auch immer im Einzelfall die Gründe sind: Die Nachkommen der Dichter und Denker sind lesefaul und dadurch auch leseschwach geworden. Lehrer können davon ein Lied singen, aber auch offizielle Qualitätstests zeigen, dass deutsche Schüler sich inzwischen schwer damit tun, längere Texte zu erfassen. Und dies ist nicht nur ein Thema bei Kindern und Jugendlichen: Laut einer Studie nimmt jeder vierte Deutsche nie ein Buch zur Hand! Ein ganz eigenes Thema wären in diesem Zusammenhang die geschätzten 4 Millionen Analphabeten in Deutschland.



Die Stiftung Lesen möchte dem entgegenwirken und initiiert nun zum sechsten Mal gemeinsam mit der Wochenzeitschrift DIE ZEIT einen bundesweiten Vorlesetag. Viele Partner fördern das Projekt, so die Deutsche Bahn und der Deutsche Bibliotheksverband.



Zeit und Zuneigung



Viel nachhaltiger dürfte aber das Engagement der oben bereits erwähnten vielen tausend Vorlesepaten sein, die jede Woche Lust am Lesen vermitteln möchten. Spricht man mit solchen Ehrenamtlichen, so erfährt man aber schnell, dass sie nicht nur Freude vermitteln, sondern selber auf diesem Weg Freude geschenkt bekommen. So Frau D. aus dem Rheinland. Alle zwei Wochen besucht sie eine Kindertagesstätte. Wenn sie in die Einrichtung kommt, wird sie schon von einigen Kindern strahlend begrüßt. Nach kurzer Zeit sammeln sich acht Kinder um sie herum und sind schon gespannt, welche Geschichten sie in dieser Woche mitgebracht hat. Anfangs bilden sie einen Kreis zu Füßen der Pensionärin. Doch je interessanter die Erzählung wird, desto näher rücken die Kinder an die Leserin und das Buch heran. Als die Stunde vorbei ist, geht kein Kind freiwillig nach draußen zu den wartenden Müttern. Frau D. muss sie eigens dazu auffordern. Sie haben wohl das erfahren, was der deutsche Dichter Jean Paul so poetisch in Worte gefasst hat: Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne.



Frau D. ist begeisterte Vorleserin und sagt: „Was Sie brauchen, ist die Bereitschaft, etwas Zeit und Zuneigung abzugeben – und Sie werden sich wundern, wie Sie selbst davon profitieren. Denn die Kinder machen es einem leicht – es gibt keine ehrlicheren Menschen als die kleinen Menschen und wenn denen was nicht passt oder sie etwas nicht verstehen, dann sagen sie das auch offen und man weiß sofort Bescheid, was man anders und vielleicht besser machen kann." Ihr Fazit: „Als Lesepate macht man damit auch völlig neue Erfahrungen in einer Welt, die immer weniger ehrlich ist. Und das tut einfach nur gut. Sie tun also nicht nur etwas sehr Gutes für die Kinder – Sie tun auch etwas sehr Gutes für sich selbst."



Worte schenken



Während der Vorlesetag auf Kinder bezogen ist, sind die Möglichkeiten, sich zu engagieren, geradezu unbegrenzt. Denn nicht nur Kinder freuen sich über Geschichten und Zuwendung, auch alte und kranke Menschen, denen das Lesen schwer fällt. Vorlesepaten für Kinder können sich bei der Stiftung melden, die auch viele hilfreiche Tipps zum Vorlesen bereithält. Ansonsten lohnt sich unabhängig davon eine Anfrage zum Beispiel beim örtlichen Seniorenheim oder Krankenhaus. Hörbücher sind gewiss eine schöne Erfindung, aber die persönliche Anwesenheit des Vorlesers ist doch viel wertvoller.



Und wer sich gar nicht in der Öffentlichkeit präsentieren will, der kann seine Lust am Vorlesen jederzeit in der direkten Umgebung einbringen: Eine Vorlesestunde für die Nachbarskinder, während die Mütter in Ruhe etwas erledigen können. Ein Besuch mit der Zeitung bei der fast blinden Nachbarin. Vorlesen kann auch eine Art der Zuwendung sein, wenn mir das Reden mit dem greisen Onkel schwer fällt, den ich aber trotzdem gerne besuchen möchte. Wer Lust am Lesen hat, kann diese Lust somit gewinnbringend für sich und andere teilen.



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016