Beklemmendes Maskentreiben

23. März 2010 | von

James Ensors phantastische Welt ist bevölkert von Masken und Harlekinfiguren wie in dem 1892 entstandenen Bild „Seltsame Masken" (Musée d‘Art Moderne, Brüssel). Sie sind unter anderem als Karikatur der dunklen Seiten des Menschen zu sehen.



Am 13. April 1860 als Sohn eines britischen Vaters und einer flämischen Mutter geboren, verließ James Ensor seine Heimatstadt Ostende erst für die Ausbildung an der Kunstakademie in Brüssel. Hier kam er mit der künstlerischen Avantgarde, mit Anarchisten und Atheisten zusammen und entdeckte die Freiheit des Denkens. Doch die Stadt am Meer, die „Göttin des blonden Lichts", hielt ihn zeitlebens gefangen: „weil das Licht immer so besonders ist und das Spiel der Sonne und des Meers mich so aufwühlt".



Aber auch das Gebaren der Menschen wühlte ihn auf. Das mondäne Treiben von Adel und Großbürgertum karikierte er mit schrillem Spott, verzerrte es in düsterer Kritik. Im Spiel mit Masken und Skeletten, mit oft grellen, kontrastreichen Faben, riss er die vornehmen Fassaden nieder. So war zum Beispiel das Bild „Die sieben Todsünden" eine flammende Anklage gegen bürgerliche Scheinheiligkeit. Kein Wunder, dass betuchte Zeitgenossen solche Gemälde nicht in ihre Salons hängten. Dabei spiegelten die dunklen Seiten der Menschen auch seine eigene Situation wider: die eines Sonderlings, der unter fehlender Anerkennung litt. Von Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts schuf er seine bedeutendsten Bilder. Danach variierte er häufig die Bildthemen, machte sich aber auch einen Namen als Zeichner und durch großartige Radierungen.



1899 stellte er erstmals in Paris aus, 1910 fand in Rotterdam eine große Retrospektive statt, 1927 wurden Ensors Werke in Hannover, Berlin, Dresden und Leipzig gezeigt. Und endlich kam er auch in seinem Heimatland an: 1929 widmete das Palais des Beaux-Arts in Brüssel seine Eröffnungsausstellung James Ensor und präsentierte fast sein gesamtes Werk der Öffentlichkeit. Der belgische König Albert verlieh ihm den Titel eines Barons. Vier Jahre später ernannten ihn seine Künstlerkollegen zum „Prince de Peintres".



Mutters Kuriositätenladen



Einen packenden Einblick in das Leben des genialen Künstlers bietet das Wohnhaus Ensors, das er 1917 von seinem Onkel erbte und bis zu seinem Tod im Jahr 1949 bewohnte. Längst ist es ein Museum, der Kuriositätenladen im Erdgeschoss, den seine Mutter führte, enthält Souvenirs, wie sie Seeleute von allen sieben Meeren in europäische Hafenstädte brachten. Hier gibt es exotische Muscheln, Nippsachen, Fächer, Puppen, Chinoiserien und dazu bizarre Karnevalsmasken, die den Künstler faszinierten. Ensor hatte dieses Geschäft nach seinem Einzug unverändert belassen, war es doch für ihn eine Quelle der Inspiration. Gegenstände aus den Ladenvitrinen finden sich bei genauer Betrachtung in seiner Bildwelt wieder.



Spinnwebfein hängen die Fäden der Vergangenheit auf dem Interieur in der Vlaanderenstraat 27. Am Garderobenständer hängen sein Mantel und sein Hut, als sei er eben von einem Strandspaziergang zurückgekehrt. Im ersten Obergeschoss liegt zur Straße hin der Blaue Salon, der ihm Empfangsraum und Esszimmer war, Atelier und Werkstatt. Hier lebte er zwischen einem barocken Schrank, Sofas, Klavier und Harmonium. Obwohl er keine Noten schreiben konnte, hat er daran eine artige Ballettmusik, „Die Tonleiter der Liebe", komponiert. Er entwarf Text und Musik, Kostüme und Dekorationen, doch das 1912 fertiggestellte Ballett sollte erst 1918 in Ostende aufgeführt werden. Vor allem aber hat er hier gemalt, und Reproduktionen seiner Werke schmücken die Wohnung.



Massen verkennen Messias



Blickfang im Blauen Salon ist sein berühmtestes Bild, „Einzug Christi in Brüssel" (das Original ist seit 1987 im Besitz des Paul Getty Museums in Malibu, USA). Das Gemälde in knalligen

Blau-, Rot- und Grüntönen, die hart gegeneinander gestellt oder durch weiße Flächen abgegrenzt sind, ist im Original eindrucksvolle 4,31 Meter breit und 2,58 Meter hoch. Eine Zentralperspektive gibt es nicht, die vielfach maskierten Figuren scheinen, von Massenhysterie erfasst, aus dem Hintergrund hervorzuquellen. Am unteren Bildrand karikiert Ensor die Honoratioren: den überheblichen Richter, den Arzt mit dem Zauberhut, den Bischof, der sich zum Tamburmajor der Blaskapelle aufschwingt, den Bürgermeister im Clownskostüm. Christus in der Bildmitte ist umringt von einer entmenschlichten Gesellschaft, die ihm zujubelt, ohne ihn zu würdigen. In gewisser Weise identifiziert sich Ensor mit dem leidenden Christus, verarbeitet darin die Ablehnung seiner Person durch die sogenannte gute Gesellschaft…



Doch die Künstlerkollegen erkannten das Genie. Lang ist die Liste der Besucher im Blauen Salon: Erich Heckel, Wassily Kandinsky, Edouard Vuillard, Emil Nolde und viele andere. James Ensor starb am 19. November 1949 in Ostende. Er wurde auf dem Friedhof der 1625 erbauten Mariakerke beigesetzt, nahe dem geliebten Meer.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016