Der Retter auf dem Esel

25. Februar 2010 | von

 In Jerusalem begegnet man auf den Straßen immer wieder wichtigen Persönlichkeiten. Und wenn man ein alter Mensch ist, hat man mächtige Männer kommen und gehen sehen: Hohepriester, römische Statthalter, Könige. Ich lebe in Jerusalem und ich bin eine alte Frau, also glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede: So etwas, wie heute Morgen, habe ich noch nie erfahren.



Als ich heute Morgen ein Jubeln durch die Gassen schallen hörte, wunderte ich mich erst einmal nicht weiter. Da stolzierte gewiss wieder irgendein so genannter „wichtiger Mensch" durch die Straßen. Besser gesagt: ein wichtiger Mann. Oder hat von euch schon einmal jemand eine wichtige Frau getroffen, der auf der Straße zugejubelt wurde? Ich jedenfalls nicht. Es konnte also nur ein Mann sein.



Nun, ich hatte gerade nichts Besseres zu tun und bin außerdem ein bisschen neugierig, daher folgte ich der Richtung, aus der die Rufe kamen. Wer war da wohl auf der Straße zu sehen? Ein König? Ein Priester? Einer von uns Juden oder etwa ein Römer? Von hinten näherte ich mich der Menschenmenge. Wie ärgerlich, dass ich so klein gewachsen bin. Deshalb konnte ich zuerst gar nichts sehen. Ich zwängte mich durch die Reihen. Endlich stand ich vorne. Meine Augen suchten nach einem Mann in einem goldenen Gewand, vielleicht mit einem besonderen Hut auf dem Kopf. Wo war er, der so bejubelt wurde? Ich hielt Ausschau nach einer Sänfte und Dienern, die den Erhabenen trugen. Oder die ihm mit großen Fächern kühle Luft zufächerten. Aber ich sah nichts dergleichen. War ich etwa blind? Die Leute um mich herum jedenfalls winkten alle mit Zweigen. Auf der anderen Straßenseite zog sogar jemand sein Obergewand aus und legte es auf den staubigen Boden. Ich sah ihn genau an und folgte seinem Blick: Er schaute auf einen Mann, der nun auf einem Esel die Straße entlang geritten kam. Ja, jetzt fiel es mir auf: Auch die anderen Zuschauer blickten alle auf diesen.



Ich muss euch ehrlich sagen: Ich war reichlich enttäuscht. Nur ein Mann auf einem Esel. Er trug zudem ganz alltägliche Kleidung. Unter einem hohen Menschen, dem man derart zujubelt, hatte ich mir jemand Anderen vorgestellt. Schon allein die Tatsache, dass er auf einem Esel ritt, kam mir komisch vor. Das Reittier hatte noch nicht einmal einen schön verzierten Sattel. Das wäre doch das Mindeste gewesen, nicht wahr? Nein, einfach bloß ein paar Gewänder lagen auf dem Tier, und darauf saß dieser Mann.



Noch etwas irritierte mich. Wie gesagt: Ich habe schon viele bedeutende Männer beobachtet. Wenn die an einer jubelnden Menschenmenge vorbeikommen, dann lächeln sie stolz und winken huldvoll. Man sieht ihnen an, wie sehr sie den Beifall genießen. Nicht so dieser Mann auf dem Esel. Fast sah es so aus, als würde ihm gar nicht auffallen, welchen Wirbel er verursachte. Er saß einfach nur auf dem Esel und hielt sich fest. Mehr nicht. Vor ihm und hinter ihm gingen Menschen und jubelten, und am Straßenrand standen Leute und winkten mit Zweigen. Und er reagierte gar nicht. Könnt ihr euch das vorstellen?



Als er näher kam, versuchte ich, in seine Augen zu sehen. Das war schwierig, denn er schaute nicht zu mir herüber. Stattdessen guckte er immer nach vorne. Obwohl: Wie ich ihn so betrachtete, schien es mir, als würde er gar nicht nach vorne, sondern vielmehr nach innen blicken. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber so wirkte es auf mich: Er hatte zwar die Augen geöffnet, aber ich glaube, er bekam von dem Trubel um ihn herum gar nicht viel mit. Er wirkte sehr ruhig und in sich gekehrt, so wie jemand, der betet, falls ihr versteht, was ich meine.



Als er direkt an uns vorüberritt, wurden die Rufe der Leute um mich herum einheitlicher und ich verstand sie endlich: „Hosanna!" Nun, das war ebenfalls ungewöhnlich. „Rette doch!" bedeutet dies in unserer Sprache. Glaubten sie wirklich, dieser Mann auf dem Esel könnte uns retten? Und das war noch gar nicht alles: „Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!"



Ja, war ich denn die einzige Normale unter lauter Verrückten? Meinten die ernsthaft, dieser Mann würde uns von den Römern befreien und das Reich des Königs David wieder errichten? Bedeutende Männer sehen ganz anders aus.



Aber halt! Ja, in der Tat: Alle bedeutenden Männer, die ich in meinem langen Leben schon beobachtet habe, sahen anders aus. Doch ich muss euch sagen: Diese so genannten „bedeutenden Männer" haben unserem Volk und mir persönlich gar nichts gebracht. Schon gar nichts Gutes. Die meisten waren nur an ihrem eigenen Ruhm, an Macht und Reichtum interessiert. Aber dieser hier war eindeutig anders.



Plötzlich dämmerte es mir: Ob etwa genau dieses Anders-Sein das Entscheidende war? Vielleicht muss ja so ein „ganz anderer" kommen, um Rettung zu bringen. Vielleicht braucht es einen, der nach innen schauen kann und nicht am äußeren Jubel interessiert ist. Vielleicht ist er tatsächlich ein Gesegneter, einer, der im Namen des Herrn kommt.



Da konnte ich nicht anders und rief selber: „Hosanna! Bring doch Hilfe!"


(nach Markus 11, 7-11)




Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016