Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

25. August 2014 | von

Mit „1914-1918. Der Erste Weltkrieg“ zeigt das Deutsche Historische Museum in Berlin vom 29. Mai bis zum 30. November 2014 auf mehr als tausend Quadratmetern die deutschlandweit einzige Überblicksausstellung zu den deutschen und globalen Zusammenhängen des Ersten Weltkrieges, der gemeinhin als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts gilt.



Mehr als 60 Millionen Männer standen im Ersten Weltkrieg unter Waffen. Er ging in die Militärgeschichte als erster „industrieller“ Massenkrieg ein und gilt gemeinhin als die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Rund 40 Länder aller Kontinente waren von 1914 bis 1918 an diesem Krieg beteiligt. Neun Millionen Soldaten und fast sechs Millionen Zivilisten verloren ihr Leben.



FACETTENREICHER ÜBERBLICK

Konzentrieren sich derweil knapp 80 andere Ausstellungen in ganz Deutschland auf einzelne Themen und Gebiete, unternimmt das Deutsche Historische Museum in Berlin einen globalen Gesamtblick. Zum Gedenken an den Beginn des Krieges vor hundert Jahren zeigt die Ausstellung einen facettenreichen Überblick der Kriegsereignisse sowie deren Voraussetzungen und Folgen. Laut Alexander Koch, Direktor des Deutschen Historischen Museums, sei es das erklärte Ziel gewesen, „die übergreifenden Zusammenhänge deutlich zu machen von dieser Gewalteskalation, die die halbe Welt in einen Krieg führte“. Keine leichte Aufgabe, wird doch der Erste Weltkrieg gerade in Deutschland stark überlagert vom Gedenken an den Zweiten Weltkrieg. Angesichts der monströsen nationalsozialistischen Völkermorde und Vernichtungskriege verblassten die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges.



UNTERSCHIEDLICHES VERSTÄNDNIS

Doch heute, hundert Jahre nach Kriegsbeginn, eröffnen sich neue Perspektiven auf die Ereignisse. Während die Zeit von 1914 bis 1918 in Deutschland immer stärker dem kommunikativen Gedächtnis entrückt und Orte wie Langemarck oder Verdun in der deutschen Familienüberlieferung verblassen, rücken die Kriegsschauplätze in Mittel- und Osteuropa stärker ins öffentliche Bewusstsein.

Denn die Menschen in den Ländern Mittel-, Ost- und Südeuropas erinnern sich anders an den Krieg als die Menschen in Deutschland oder Westeuropa. Polen, Tschechen, Ukrainer, Litauer, Letten oder Esten sehen in diesem Krieg nicht die „Urkatastrophe“, sondern verbinden damit den Wiedergewinn der eigenen Staatlichkeit. Anders gedenken Franzosen oder Briten. Die Erinnerung an den Sieg, der in diesen Ländern weitaus mehr Opfer forderte als im Zweiten Weltkrieg, prägt bis heute das nationale Selbstverständnis.

Die Ausstellung führt den Besucher geografisch-chronologisch durch die Kriegsschauplätze.



MARKANTE ORTE

Hierfür dienen 14 markante Orte in 21 Stationen. Darunter befinden sich konkrete Schlachtfelder wie Verdun, Tannenberg, Deutsch-Ostafrika oder Gallipoli, aber auch politisch-kulturelle Zentren wie Petrograd oder Berlin und besetzte Städte wie Brüssel. Sie alle stehen für wichtige Stationen und Situationen des Krieges.

Ein Globalgeschehen wie den Ersten Weltkrieg räumlich fassbar zu machen, ist eine naheliegende Idee, angesichts der brutalen und erschütternden Ereignisse in diesen Orten. In Ypern der Gaskrieg, in Brüssel die Massenvergewaltigungen an Zivilistinnen, in Gallipoli das Bild eines während der Vertreibung der Armenier zurückgelassenen Kindes, in Berlin an Hunger sterbende Arbeiterinnen und Kinder. Es werden auch Schicksale von Einzelpersonen geschildert, die den Besuchern ein tieferes Verständnis der Kriegssituation und der Menschen in dieser Situation geben. So kommt die Malerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz mit ihren Tagebucheinträgen zu Wort.



TRAURIGE REKORDE

Die dargestellten Objekte sind meist nicht selbsterklärend. Für einen ersten Überblick helfen die obligaten Tafeln. In mehreren Kurzfilmen, unverfälscht stark flackernd, werden Ausschnitte von der Front gezeigt. Die Soldaten spielen Karten in den Gräbern, teilen sich das Brot, warten auf den Feind und meist auf den Tod. Etwa 60 Millionen Soldaten zogen in den Krieg, 20 Millionen Soldaten und Zivilisten starben, 21 Millionen wurden verwundet. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es einen Luftkrieg, einen U-Boot-Krieg und einen Gaskrieg. 1915 setzten die Deutschen erstmals bei dem Angriff auf Ypern Chlorgas ein, wenig später auch die Briten und die Franzosen. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wäre wohl kaum jemand auf die Idee gekommen, dass dieses so dynamische Europa, die Herrscherin der ganzen Welt, 20 Jahre später am Boden, zum Teil in Schutt und Asche liegen würde“, so Gerd Krumreich in seinem Beitrag für den Deutschen Historischen Museumsband.



BERAUSCHT VON PATRIOTISMUS

„Deutschland August 1914“, überschrieb der Porträtmaler Friedrich August von Kaulbach sein Bild einer überlebensgroßen Germania, die einer Walküre gleicht, jenem bewaffneten Geisterwesen aus der nordischen Mythologie. Mit wehenden blonden Haaren, grimmigem Gesicht, das blanke Schwert in der Hand, blickt sie, zu allem entschlossen, der drohenden Gefahr entgegen. So entschlossen wie Kaulbachs Germania zeigte sich nach Kriegsbeginn auch die überwältigende Mehrheit der deutschen Intellektuellen, die den Krieg als notwendig und gerecht ansahen. In patriotischen Kriegsgedichten und Aufsätzen beschworen Dichter und Philosophen die deutsche Kultur, die es gegen die östliche Barbarei zu verteidigen gelte. Namhafte Schriftsteller, wie zum Beispiel Thomas Mann, schrieben Aufsätze, Reden und Manifeste, in denen sie die weltgeschichtliche Mission des Deutschen Reiches priesen und die Schuld an dem Konflikt allein den Kriegsgegnern zuschoben. Der Griff zur Waffe erfolgte demnach rein aus Notwehr, um das eigene Vaterland zu verteidigen.

Der geistige Topos manifestierte sich unter anderem in einer Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches im Oktober 1914, in welcher fast 80 Prozent der Professoren diesen unterzeichneten: „Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur in Deutschland. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche Militarismus erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.“



DIE SCHULDFRAGE

Jahrzehntelang dominierte hierzulande die Auffassung des Hamburger Historikers Fritz Fischer, der die Verantwortung und die Schuld für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges allein dem Deutschen Kaiserreich gibt. Hingegen will sich Herfried Münkler, Professor an der Humboldt Universität Berlin, der Ende des vergangenen Jahres sein 900-Seiten-Buch „Der große Krieg: Die Welt zwischen 1914 und 1918“ herausgab, bei der Schuldfrage nicht festlegen. Gegenüber der FAZ äußerte er: „Das Problem von Fritz Fischers Kriegsschuldthese liegt darin, dass in militärischen Stäben geforscht wurde. Der Kriegsausbruch als eine wirkliche politische Planung der Deutschen aufgefasst wurde.“

Auch der australische Historiker Christoph Clark bleibt in diesem Punkt offen. Die Mächte in Europa – England, Frankreich, Deutschland, Russland – waren allesamt hegemonial ausgerichtet, während Österreich-Ungarn wie auch das Osmanische Reich versuchten, Gebiete und Einfluss zu bewahren. „In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen, war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen“, argumentiert Clarke. Sein Urteil: „Es gab für alle Mächte immer wieder die Möglichkeit, einen anderen, einen friedlichen Weg einzuschlagen.“



NULL-ACHT-FÜNFZEHN

Rund 500 Exponate zeugen von dem einen eingeschlagenen, grausamen Weg in seiner ganzen Brutalität. Bei der Auswahl haben die Kuratoren eine gute Balance aus Dokumenten und Briefen, Fotos und Gemälden sowie dem furchterregenden präzisen Waffenarsenal dieses Krieges gefunden. Wie etwa die MG 08/15. Die bis heute gebräuchliche Redewendung „Nullachtfünfzehn“ meint „etwas ganz Alltägliches“. Kaum jemand weiß, dass sich diese Wendung auf ein Maschinengewehr bezieht, das 1908 erfunden wurde. Eben diese MG 08/15 wurde zur weitverbreitesten Waffe der deutschen Truppen. Sechs Mann mussten das stählerne Ungetüm bedienen, das in der Minute bis zu 450 Schuss abfeuern konnte. Ähnliche MGs kamen seitens der Alliierten zum Einsatz. Während zu Beginn des Krieges die Franzosen noch mit Stoffkäppis und die Deutschen mit Lederhelmen an die Front marschierten, wurden diese Schutzkappen wenig später durch Stahlhelme ersetzt. Doch auch diese konnten der Wucht der Geschosse nicht standhalten, wie die zersplitterten Exponate in der Berliner Schau belegen.



ALS KRÜPPEL IN DIE HEIMAT

Die Männer, die Artilleriefeuer, Sturmangriffe und Stacheldrahtverhaue überleben, kehren als Krüppel in ihre Heimat zurück. Sie haben Beine oder Hände verloren, sind blind oder taub oder werden von Albträumen gemartert. So wird die Gewalt an der Front auch für die Zivilbevölkerung sichtbar. Ratgeber-Heftchen erläutern anhand von Bildern, wie Einarmige den Alltag bewältigen können – sich etwa die verbleibende Hand abtrocknen oder die Fingernägel säubern. Niemand kann das ganze Ausmaß des Grauens nachvollziehen. Die Front wurde zu einem Experimentierfeld für grausame Waffen. Besonders gefürchtet der Flammenwerfer, eine apokalyptisch anmutende Apparatur, mit denen nicht nur hölzerne Unterstände in Sekundenschnelle in Brand gesteckt wurden. Grabenkeulen, Stielhandgranaten, Luftminenwerfer, getarnte Panzer, Giftgas – die neuen Waffensysteme markieren eine Wende in der Kriegsführung. Hunderte oder tausende Menschen auf einmal kampfunfähig zu machen, war in Ausmaß und Brutalität etwas völlig Neues.



LEIDEN DER ZIVILBEVÖLKERUNG

Mit zunehmender Dauer forderte der Krieg immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung. Hunger, Kriminalität und Gewalt nahmen im täglichen Überlebenskampf zu. Alles war knapp, alle nur erdenklichen Rohstoffe fehlten. „Frauen und Mädchen! Sammelt Frauenhaar!“ fordert ein Plakat die weibliche Bevölkerung auf, denn durch die britische Seeblockade kommt kein Kamelhaar mehr ins Land, das eigentlich zur Produktion von Triebriemen und Dichtungen dient. Gummi von Fahrradschläuchen wurde von der Armee eingezogen, wodurch die Räder auf notdürftig zusammengeschweißten Metallspiralen rollen. Die soziale Not schürt bei Millionen kriegsmüden Deutschen die Unzufriedenheit. Im Ausland die gleichen Szenarien. Eine Fotographie zeigt eine junge Belgierin, die sich in einem Tuch eingewickelt an ihre auf einem Karren verstauten Habseligkeiten lehnt. Ihr Blick abgekämpft und ohne Hoffnung.



BELEHRT, DOCH AUCH RATLOS

Die Ausstellung endet mit einem Ölgemälde von Elk Eber, der auch für nationalsozialistische Zeitungen wie den „Völkischen Beobachter“ und den „SA-Mann“ zeichnete. „Die letzte Handgranate“, so der Titel des Gemäldes aus dem Jahr 1936, das einen ernsten Soldaten mit breiten Schultern und einem leichten Bartschatten zeigt – eine Visualisierung der Dolchstoßlegende. „Die Gewalterfahrung mit etwa 20 Millionen Toten hat Europa nicht davon abgehalten, 24 Jahre später in den nächsten Krieg zu ziehen“, schließt Alexander Koch.

Neben der Ausstellung lohnt sich der Begleitband, der 100 Objekte genauer unter die Lupe nimmt. In übersichtlicher Gestaltung werden auf der einen Katalogseite interessante Informationen in entsprechender Textmenge geliefert und auf der anderen Seite das gemeinte Objekt abgebildet. Wie der Begleitband, will auch die Ausstellung vor allem durch ihre Sammlungen überzeugen. Interessante Dokumente und Objekte kann man entdecken. So zum Beispiel kleine Holzfiguren, die ein verwundeter französischer Soldat 1914 anfertigte. Eine These oder bestimmte Fragestellung wird in der Ausstellung nicht aufgeworfen. Und so werden die Besucher zwar belehrt, aber ein wenig ratlos aus den Räumen entlassen.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016