Ein Arbeiter schreibt Geschichte

18. September 2023 | von

Am 29. September wird der ehemalige polnische Politiker und Nobelpreisträger Lech Wałesa 80 Jahre alt. Wir blicken auf sein politisches Wirken.

Lech Wałesa wurde im damals von der deutschen Wehrmacht besetzten Polen in einem Dorf westlich von Danzig am 29. September 1943 geboren. Die Besatzungs- und Kriegssituation hat seine Familie hautnah erlebt. Sein Vater wurde von den Deutschen zur Zwangsarbeit gezwungen, später in einem Außenlager des KZ Stutthof interniert. Ausgezehrt und todkrank kehrte er 1945 zu seiner Familie zurück, in deren Mitte er nach zwei Monaten starb. Seine Mutter, allein mit vier Kindern, heiratete ein Jahr später den Bruder ihres verstorbenen Mannes. Die Kinder konnten sich mit dem Stiefvater nicht anfreunden. Lech Wałesa schreibt in seiner Autobiografie „Ein Weg der Hoffnung“: „Ich glaube, ich bin nie richtig in diese zweite Familie meiner Mutter hineingewachsen … Nie haben wir unseren Vater vergessen können, diesen guten und verständnisvollen Menschen.“

Gewerkschaft und Geheimdienst

Nach der Grundschule besuchte er eine Berufsschule in der Kleinstadt Lipno und erlernte den Beruf des Elektrikers. Interessant ist seine Selbstbeschreibung als heranwachsender junger Mann: „Ich zeige die gekünstelte Lässigkeit eines Vorstadt-Playboys. … Was ins Auge fällt, ist nur das Selbstvertrauen, das in meinen dreisten Gesten und meiner Haltung zum Ausdruck kommt.“ Nach der Ausbildung und dem zweijährigen Militärdienst bekam Wałesa 1967 Arbeit als Schiffselektriker auf der Lenin-Werft in Danzig. Seine gewerkschaftliche Arbeit dort wird ihn der ganzen Welt bekannt machen. In Danzig hatte er seine Frau Danuta kennengelernt, die er 1970 heiratete und mit der er in diesen turbulenten Jahren acht Kinder bekam.

Im Dezember 1970 kam es zu einer ersten großen Auseinandersetzung mit der Staatsmacht. Diese hatte kurz vor Weihnachten massive Preiserhöhungen, vor allem von Lebensmitteln, angekündigt. Auf den Werften von Danzig, Gdingen und Stettin kam es zu Streiks. Wałesa wird in die Leitung des Streikkomitees seiner Werft gewählt und nach der gewaltsamen Niederwerfung des Streiks verhaftet und zu einem Jahr Haft verurteilt. Im Kontext dieser Haft soll Wałesa als Mitarbeiter des Geheimdienstes angeworben worden sein. Er schreibt in seiner Autobiografie: „Und es ist wahr, dass ich aus dieser Auseinandersetzung nicht mit reiner Weste hervorgegangen bin. Man stellte mir die Bedingung: Unterschreib! Und ich unterschrieb.“

Möglicherweise hat Wałesa in den 1970er Jahren dem Geheimdienst berichtet, doch 1980, als er Anführer der Solidarnos´c´-Bewegung wurde, hatte er diese Zusammenarbeit längst hinter sich gelassen, urteilt der polnische Historiker Andrzej Friszke: „Wenn Wałesa in den 1980er Jahren Agent gewesen wäre, hätte die Solidarnos´c´-Bewegung keine solchen Erfolge erringen können.“

Unabhängig – trotz Kommunismus

Im August 1980 kam es auf der Lenin-Werft in Danzig und in vielen anderen Betrieben zu Streiks. Der Kampf ging um die Legalisierung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnos´c´“. Verhandlungen führten schließlich dazu, dass die kommunistische Regierung mit dem Streik-Koordinationskomitee eine Vereinbarung traf, die unabhängige Gewerkschaft Solidarnos´c´ zuzulassen. Der Elektriker aus Danzig, ein einfacher Arbeiter mit kräftigem Schnauzbart und dem Bild der Madonna von Tschenstochau am Revers, wurde zum ersten Vorsitzenden von Solidarnos´c´ gewählt.

Es war eine turbulente Zeit, um in einem kommunistischen Staat eine unabhängige Gewerkschaft aufzubauen. „Linie Wałesa“ nennt er selbst seine wichtigste Fähigkeit, „in einer Situation, in der alle behaupten, es gäbe nur zwei Wege, einen dritten Weg zu beschreiten“. Zu Hilfe kam ihm sicherlich die starke Position der katholischen Kirche in seinem Heimatland und die Wahl eines polnischen Papstes. Primas Wyszyn´ski und Papst Johannes Paul II. empfingen ihn persönlich und unterstützten ihn in seiner Arbeit.

Ein Platz in der Geschichte

Doch im Dezember 1981 wurde die Euphorie des Aufbruchs jäh unterbrochen. Der Parteichef Jaruzelski verhing das Kriegsrecht über Polen. Viele Gewerkschafter wurden verhaftet. Wałesa wurde in Einzelhaft genommen und in einer Parteivilla interniert. Nun kam ihm seine internationale Bekanntheit zu Hilfe: Das US-Magazin „Time“ ernannte ihn 1982 zum „Mann des Jahres“, weitere Zeitungen und Organisationen verliehen ihm Freiheitspreise. Höhepunkt war 1983 die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis.

Der Kampf für die unabhängige Gewerkschaft und demokratische Reformen blieb steinig und zäh. Erst in den Jahren 1989 und 1990 kam es – wie im gesamten damaligen Ostblock – zu einem politischen Umschwung. Wałesa wurde 1990 für fünf Jahre Präsident Polens. Er führte Polen in die Marktwirtschaft und öffnete sein Land für die Europäische Union. Diese Politik wurde nicht von allen geteilt und er unterlag bei den Präsidentschaftswahlen 1995 knapp einem ehemaligen Kommunisten. Sein Einfluss nahm weiter ab, und so zog er sich im Jahr 2000 aus der aktiven Politik zurück. Als Gastredner und im „Rat der Weisen zur Zukunft Europas“ trat er gelegentlich noch öffentlich auf. Sein runder Geburtstag ist ein guter Anlass, an diesen einfachen Arbeiter zu erinnern, der europäische Geschichte mitgeschrieben hat.

Zuletzt aktualisiert: 18. September 2023
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