Erntezeit

01. Januar 1900 | von

“Trau keinem über dreißig“ - kommt Ihnen dieser Spruch, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufkam, vielleicht bekannt vor? Nun, mittlerweile haben die Sprücheklopfer von damals diese Schallgrenze seit langem selbst überschritten, und ob sie ihre “Kampfansage” heimlich und leise einfach beerdigt haben oder die Obergrenze jahrzehnteweise immer wieder angehoben haben, bleibt ihr Geheimnis.

Jugendkult. Tatsache ist, dass sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren in unserer Gesellschaft ein Jugendkult breit gemacht hat, eine Gesellschaft entstanden ist, die – zumindest oberflächlich betrachtet – die Jugend in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt.

Dennoch, jung sein, schön sein, fit sein, das sind schon gesellschaftlich erstrebenswerte Eigenschaften, denen wir alle mehr oder weniger bewusst nachjagen. Niemand ist davon ausgenommen, und die meisten alten Menschen empfinden es eben auch als Kompliment, wenn sie jünger eingeschätzt werden als sie tatsächlich sind. “Alt werden will jeder, aber alt sein niemand” ist die Erfahrung, die so mancher macht, wenn er sich mit den Problemen älterer und alter Menschen befasst.

Vielfalt des Alters. Viel beklagt wird auch das Bild älterer Menschen, das die Werbung uns vorgaukelt, und das so wenig realistisch sei. Aktive alte Menschen, die dank rechtzeitiger Vorsorge oder der Einnahme der richtigen Präparate weder finanziell noch gesundheitlich an ihre Grenzen kommen, sondern offensichtlich zu Leistungen fähig sind, auf die jeder 40-Jährige stolz wäre. Natürlich stimmt dieses Bild nicht – aber Werbung ist eben Werbung, und kein Abbild der Realität. 

Auf der anderen Seite: Stimmt denn das Bild mancher Dokumentarfilme, in denen alte Menschen in mehr oder weniger ansprechenden Altenheimen vernachlässigt, abgeschoben und vergessen nur noch auf den Tod warten?

Ein Blick in die Realität zeigt wohl vor allem eines: Alt sein – das ist genauso vielfältig in seinen Formen wie jede andere Lebensphase auch. Neben aktiven gibt es passive Menschen, neben lebensfrohen übellaunige, gesunde wie kranke. Und dennoch hat diese Lebensphase natürlich ihre Gemeinsamkeiten, ihre spezifischen Herausforderungen, die sie von anderen Zeiten menschlichen Lebens unterscheidet.

Grenzen. Die absolute Grenze menschlichen Lebens, der Tod, rückt näher, wird sichtbarer, konkreter, und die Erkenntnis, dass er nicht nur ein allgemeines Faktum ist, sondern dass er jeden ganz persönlich meint.

Grenzerfahrungen des Lebens also, die sich in den unterschiedlichsten Tatsachen widerspiegeln: dass die Gesundheit nicht mehr so selbstverständlich ist, dass die Kraft nachlässt, dass das Gedächtnis einen schon einmal im Stich lässt... Sicherlich könnte jeder alte Mensch aus eigenem Erleben die Aufzählung leicht ergänzen. In der heutigen Zeit kommt der rasche Wandel hinzu: das “temporeiche“ Leben, dem sich viele alte Menschen nicht mehr so schnell anpassen können – immer wieder Neues in Technik und Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Aber auch die Mobilität unserer Gesellschaft macht ihnen so manches Mal zu schaffen – in einer urbanen Gesellschaft sind gerade ältere Menschen oft traurig, wenn das vertraute Umfeld sich immer wieder rasch ändert. 

Herausforderung Loslassen. Loslassen, immer wieder loslassen, das Vertraute und Bekannte, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, das ist eine der großen Aufgaben alter Menschen. Viele alte Menschen bewältigen diese Herausforderung durchaus sehr kreativ. Trotz allem – oder vielleicht gerade deshalb - wenden sie sich jeden Tag neu dem Leben zu und entdecken mit viel Sensibilität das Schöne und Lebenswerte darin. Aber Loslassen können, das kann ich wohl nur, wenn ich etwas loszulassen habe, oder anders gesagt, alt sein können, das kann nur, wer auch jung sein durfte. Wie viel Verbitterung prägt manche alten Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht wirklich “jung” sein durften. “Ich habe nie wirklich gelebt”, ist dann die traurige und bittere Erkenntnis.

Loslassen, das heißt auch Abschiednehmen von der für uns Menschen so wichtigen Fähigkeit “autonom” zu leben. Viele alte Menschen sind auf die Hilfe anderer angewiesen, graduell sicher unterschiedlich, von einfacher Hilfestellung bis hin zur Vollzeitpflege. Wie schwer fällt es, diese eigene Hilflosigkeit anzunehmen und dabei oft genug von dem Gefühl bedrängt zu sein, dankbar sein zu “müssen“, obwohl innerlich eher Wut und Ohnmachtgefühle spürbar sind. Im Alter scheint sich die Grundtatsache, dass ich als Mensch nicht alleine leben kann, oft derart zuzuspitzen, dass es für manch alten Menschen kaum noch erträglich ist.

Loslassen – auch ein Abschiednehmen von Beziehungen und Menschen. Freunde verabschieden müssen, weil sie sterben, erst einzelne, dann immer mehr, bis schließlich Menschen in hohem Alter kaum noch jemanden haben, mit dem sie ihre frühen Erinnerungen teilen können. Alleine zu leben geht eines Tages nicht mehr, der Umzug in ein Altenheim wird oft unvermeidlich und somit geht auch noch die vertraute Umgebung, die geliebte Wohnung und das soziale Umfeld verloren.

Ohnmacht und Einsamkeit. Das stimmt nicht nur traurig, sondern bedeutet häufig auch eine Einsamkeit, die bedrückend und deprimierend ist. “Für niemanden bin ich mehr wichtig”, “ich kriege kaum noch Besuch” – häufig so vorsichtig formuliert, lassen solche Worte dennoch die ganze Einsamkeit alter Menschen erahnen.

Also besser gar nicht erst alt werden, ist das die Schlussfolgerung aus dem Blick auf die Sorgen und Nöte alter Menschen? Worin liegt denn eigentlich der “Gewinn” des Alterns, oder, christlich ausgedrückt, was ist das Heilvolle dieser Lebensphase?

Ein Antwortversuch könnte das folgende Gebet sein, das mit einer Portion Humor und Selbstironie die Versuchungen und Chancen des Alters bedenkt und geradezu weise vor Gott trägt.

 

Gebet als Antwort. Herr du weißt besser als ich,

dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.

Bewahre mich vor der Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein.

Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit tut es mir Leid, sie nicht weiterzugeben, aber Du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden, sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. (...)

Ich wage auch nicht, um ein besseres Gedächtnis zu bitten, nur um etwas mehr Bescheidenheit und etwas weniger Bestimmtheit, wenn mein Gedächtnis nicht mit dem der anderen übereinstimmt.

Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.

Erhalte mich so liebeswürdig wie möglich.

Ich weiß, dass ich nicht unbedingt ein Heiliger bin, aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen unterwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir, Herr, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.

 

 

 

 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016