Glanzvolle Metropole am Goldenen Horn

22. Januar 2010 | von

 Seit dem Altertum wurde die Stadt an den Ufern des Bos-porus, der Orient und Okzident verbindet, umkämpft und umworben. Ihre einzigartige Lage auf zwei Kontinenten machte Istanbul über Jahrhunderte hinweg zum Machtzentrum des oströmischen und byzantinischen, dann des osmanischen Reiches – und zu einer Schatztruhe voller Kunstwerke und Baudenkmäler. Dieses Erbe hat die türkische Metropole zu einer der europäischen Kulturhauptstädte 2010 erhoben.





 Eines der Symbole, das Istanbuls kulturellen Reichtum kündet, ist die Hagia Sophia. Sie gilt als eines der Wunderwerke religiöser Architektur weltweit. Die prachtvolle Kuppelbasilika wuchs 532 bis 537 unter Kaiser Justinian auf den Trümmern zweier zerstörter Vorgängerbauten in nur wenigen Jahren mit Baumaterial aus allen Teilen des byzantinischen Reiches zu einem gigantischen Raumgebilde heran. Von der Kuppel sagte man, sie sei direkt an den Himmel geknüpft. 1453, nach der Eroberung Ostroms durch die Osmanen, wurde die Kirche der Heiligen Weisheit in eine Moschee verwandelt, Minarette angebaut, christliche Symbole zerstört, die Mosaiken unter Putz begraben. Nach der Gründung der türkischen Republik erhielt sie 1935 Museumsstatus.

Restaurierungsarbeiten legten im Juni 2009 in der 56 Meter hohen Kuppel einen Engel frei, dessen streng-schönes Antlitz auf die Besucher herabblickt. Die anderen drei Engel sollen ebenfalls ans Licht gebracht werden. Ein Tessiner Architekt hatte sie bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bei Restaurierungsarbeiten im Auftrag des Sultans freigelegt, musste sie aber wegen der Reaktion religiöser Fanatiker wieder übertünchen.

Eines der besterhaltenen Mosaike befindet sich über der Tür am südlichen Eingang zum inneren Narthex: Im Mittelpunkt steht eine elegante Madonna, das Jesuskind scheint vor ihr zu schweben, weil sie nur zart mit der Rechten seine Schulter berührt, mit der Linken einen Fuß umfasst. Ehrfurchtsvoll zu ihren Seiten stehen Kaiser Justinian mit dem Modell der Kirche und Kaiser Konstantin mit dem Modell seiner Stadt. Auch spätere Stifter haben sich verewigt wie Kaiser Konstantin IX. mit Kaiserin Zoe, Christus flankierend, oder Kaiser Comne-

nus II. und Kaiserin Irene zu Seiten der Gottesmutter.



Eines der berühmtesten Kunstwerke ist das Deesis-Mosaik oben auf der Südempore: Christus wird umrahmt von Maria und Johannes dem Täufer, die kummervoll zu Boden blicken – sie baten den Herrn, auch Sünder ins Paradies eingehen zu lassen. Ist es Zufall, dass sich dieses Motiv gegenüber der Wand befindet, vor welcher der Sarkophag des blinden Dogen Dandolo aufgestellt wurde, der den vierten Kreuzzug 1204 aus machtpolitischen wie monetären Gründen über Konstantinopel umleitete, Byzanz seiner Kunstschätze und Reliquien beraubte? Dandolo hatte Marias und Johannes‘ Flehen um seine Erlösung bitter nötig. Ein ähnliches Raumerlebnis wie die tausend Jahre ältere Hagia Sophia, wenn auch auf anderen Bauprinzipien beruhend, bietet die Sultan-Ahmet-Moschee, die 1609 bis 1617 von Mehmet Aga, einem Schüler des großen Baumeisters Sinan, errichtet wurde. Über dem Gebetsraum wölbt sich eine 43 Meter hohe Zentralkuppel, die von vier Halbkuppeln umgeben ist.



Aus der Ferne gesehen ist sie mit ihrer abgestuften Kuppellandschaft und den sechs Minaretten die beeindruckendste Moschee der Stadt. Das Innere wurde mit mehr als 21.000 Fliesen überwiegend in leuchtendem Azur dekoriert, die ihr den Namen „Blaue Moschee" gaben. Sie steht auf dem Besuchsplan aller Touristen, auch Papst Benedikt verweilte hier meditierend während seines Besuchs 2006.



Minarette und Mosaiken



Um den Sultan Ahmet-Platz versammeln sich mit der Blauen Moschee, der Hagia Sophia, den Überresten des Hippodroms sowie dem Topkapi-Serail die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Istanbuls. Touristen, die an byzantinischer Kunst interessiert sind, zieht es in die Altstadt, wo sich ein verstecktes Juwel befindet: die in ein Museum verwandelte Chora-Kirche. Die heutige Anlage stammt aus dem 12. bis 15. Jahrhundert. Kostbare Mosaiken aus winzigen vielfarbigen Steinen sowie prächtige Wandmalereien stehen für die goldene Zeit des spätbyzantinischen Reiches. Ernst blickt Christus als Weltenherrscher aus der Kuppel herab, umringt von 24 Vorvätern aus dem Alten Testament. Die schönsten Mosaiken befinden sich im inneren und äußeren Narthex. Die Vielfalt der biblischen Themen, die Farbenpracht und Detailfreude ist unvergleichlich. Kunstvoll gestaltete Szenen aus dem Neuen Testament und aus den Apokryphen überziehen die Wände. Einige Bilder aus dem Marienleben sind so voll Bewegung und Schönheit, dass sie den Betrachter anrühren: Da sieht er die entschlafene Gottesmutter auf dem Totenbett, umgeben von kummervollen Gefährten, darunter Petrus und Paulus, einer ein Weihrauchgefäß schwenkend, während Christus in der Mandorla in seinen mit goldenem Tuch bedeckten Händen ein Kind hält – Marias Seele –, die Himmelfahrt seiner Mutter andeutend.



In der Umgebung der Chora-Kirche stehen noch viele alte Holzgebäude, von denen einige als farbenfrohe Hotels Karriere machen, während unmittelbar daneben windschiefe, verwitterte Häuser ihren Bewohnern gerade noch Behausung bieten. Solche Gegensätze prägen die Stadt: Handwerkergassen und luxuriöse Einkaufszentren, Moscheen und gläserne Konzerntürme, noble Palasthotels am Bosporus und planlos errichtete Wohnsilos für die ärmere Bevölkerung in den Außenbezirken.



Die Touristen zieht es in den Topkapi-Palast der osmanischen Sultane. Insignien ihrer Macht, wie juwelenbesetzte Dolche oder der 86-karätige Löffelmacher-Diamant, sind hinter Panzerglas zu bewundern. Einige Pavillons präsentieren die kostbaren Schätze der Sultane, etwa die größte Sammlung chinesischen Porzellans außerhalb des Reichs der Mitte oder türkische Fayencen, deren häufigste Motive Tulpen, Nelken und Granatäpfel sind. Im Palastareal wurde ein Archäologisches Museum errichtet, in dem der Alexander-Sarkophag präsentiert wird: Eindrucksvolle Reliefs, die den großen Eroberer in der Schlacht sowie bei der Löwenjagd zeigen, gaben ihm den Namen. Nebenan im Museum für Altorientalische Kulturen wird der Friedensvertrag von Kadesch – geschlossen um 1269 v. Chr. zwischen dem hethitischen König Hattusili III. und Pharao Ramses II. – gezeigt, ein bedeutendes Dokument der Menschheitsgeschichte.



Art Deco und Antoniuskirche



Am anderen Ufer des Goldenen Horns bietet das alte Pera ein nostalgisches Bild. Wer aus dem „Tünel" für die unterirdische Standseilbahn wieder ans Licht steigt, durchstreift das Viertel der Europäer. Prachtvolle Konsulate erinnern ebenso daran wie christliche Kirchen, nostalgische Einkaufspassagen, Hotels und Wohnhäuser aus der Belle Epoque oder der Art Deco-Zeit. Hier, an der autofreien Istiklal-Straße, findet sich hinter einem Torbogen im Hof versteckt die Antoniuskirche. Sie wurde 1906 bis 1912 unter der Ägide italienischer Priester im neogotischen Stil erbaut. Im Hof vor der Kirche steht eine Bronzestatue von Papst Johannes XXIII. mit einer Taube.



Den besten Überblick über diesen europäisch geprägten Teil Istanbuls wie auf den historischen Stadtkern bietet die Galerie des Galata-Turms. Fast zu allen Tageszeiten drängen sich hier fotografierende Touristen, denn diese Bilder sind nur von einer Bosporusfahrt zu übertreffen. Die Ausflugsboote schaukeln im Kielwasser von Tankern, Fähren und Kreuzfahrtschiffen, auf ihrem Weg ins oder vom Schwarzen Meer. Die Kuppeln der Hagia Sophia mit den angefügten Minaretten, Moscheen und Hochhäuser ragen in den Himmel. Am Ufer zeigen sich in Luxushotels verwandelte Paläste, hölzerne Sommerhäuser, marmorne Kioske und an bewaldeten Hängen die Wohnsitze der Reichen. Bei der alten Festung Rumeli Hisar, kurz vor der Einfahrt ins Schwarze Meer, wenden die Boote und kehren in Istanbuls Zentrum zurück. Seine einzigartige Silhouette bleibt unvergesslich.



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016