Idylle am Rande der Stahlindustrie

24. März 2011 | von

Die Essener Margarethenhöhe war 1906 schon als Idee revolutionär: grün, freundlich und von der Stadt als eigenständige Siedlung abgehoben. Das damalige Musterbeispiel an Lebensqualität und Wohnkultur hat seine Bedeutung durch Individualität und architektonischen Charme bis in unsere Tage erhalten. Vor hundert Jahren bezogen die ersten Menschen dort ihr behagliches Heim und genossen modernsten Wohnkomfort.



Der Anlass war so freudig und zukunftsträchtig wie das, was durch ihn angestoßen wurde: Zur Vermählung ihrer Tochter Bertha errichtete die Großindustriellenwitwe Margarethe Krupp am 1. Dezember 1906 eine Stiftung für Wohnungsfürsorge zugunsten minderbemittelter Klassen. Sie legte damit den Grundstein zu einer der bekanntesten und ungewöhnlichsten Siedlungen des Ruhrgebietes: der Marga-rethenhöhe.

Margarethe von Krupp hatte in den vorausgegangenen Jahren ein umfangreiches Gelände im Südwesten der Stadt Essen, Sitz ihres Stahlimperiums, erworben. Dort sollte nun auf 50 Hektar mit dem Stiftungskapital von einer Million Mark eine ganz neuartige Gartenstadt für 16.000 Menschen entstehen. Würdevolles Wohnen nicht nur für die Arbeiter des Unternehmens – der Werkswohnungsbau hatte bei Krupp eine schon Jahrzehnte währende Tradition –, sondern auch für Angestellte und Beamte.

Margarethe Krupp vermittelte mit ihrem Bauvorhaben ihre soziale Lebensmaxime „Reichtum verpflichtet“ und errichtete auf der Anhöhe ihren Mitarbeitern eine neue Welt aus Licht, Luft und Grün. Eine Gegenwelt zu der seit zehn Jahren rasant wachsenden Stahlmetropole, die damals weit über 250.000 Einwohner zählte. Für die zu Tausenden nach Essen drängenden Arbeiter musste schnell Wohnraum geschaffen werden. Das führte zu kleinen, dunklen Wohnungen in schlechter Luft und mit untragbaren hygienischen Zuständen. Zustände, die seit dem 19. Jahrhundert auch in anderen europäischen Industriestädten Kommunalpolitiker aufschreckten.



Sozialfürsorge Gartenstadt

Gezielt sollte mit Maßnahmen zur Stadtplanung dem Übel urbaner Unkultur an die Wurzel gegangen werden: Kanalisationssysteme sollten angelegt und eine örtliche Gesundheitsfürsorge eingerichtet werden. Fruchtbarer Boden für zahlreiche lebensreformerische Bewegungen, darunter auch die 1902 gegründete „Deutsche Gartenstadtgesellschaft“. Diese propagierte ein Leben im Grünen in  weiträumigen Siedlungen. Das Einfamilienhaus mit Garten wurde zum Ideal der Wohnform. Nach genossenschaftlichem Prinzip gab es ein Gemeineigentum an Grund und Boden. Dieses fehlt bei der Margarethenhöhe, aber im Hinblick auf die Bauweise ist sie exemplarisch: einer der ersten und konsequentesten Versuche der Umsetzung des Wohnideals, das Stadt- und Landleben verbinden sollte.



Genialer Wurf

Wer war geeignet, Konzept und Durchführung des ehrgeizigen Projektes in die Hand zu nehmen? Das Stiftungsgremium machte sich auf eine lange Suche im ganzen Reich. Seine Wahl fiel schließlich auf den hessischen Architekten Georg Metzendorf. Er überzeugte durch sein Alter – mit seinen 34 Jahren war er jung genug, um die Lebensaufgabe Margarethenhöhe anzupacken – und seinen Aufsehen erregenden Entwurf für ein Arbeiterwohnhaus, das er kurz zuvor auf der Landeskunstausstellung in Darmstadt präsentiert hatte.

Am 11. August 1908 unterzeichnete der Architekt den Vertrag für das Jahrhundertwerk Margarethenhöhe und ging mit Elan ans Werk: Im Juli 1909 legte er bereits den Erschließungsplan vor. Ein Jahr später wurde die neue Fußgängerbrücke über das Mühlenbachtal freigegeben und das erste Haus am Brückenkopf fertig gestellt. Die Lage des Geländes auf einer Hochebene mit den seitlich begrenzenden tiefen Tälern beeinflusste den Charakter der Siedlung, der auch heute noch in seiner Ursprünglichkeit erhalten ist: Sie wirkt wie eine geschlossene dörfliche Siedlung. Metzendorf schmiegte die Häuserzeilen an die Formen des Hügels an. So erhielt jeder Straßenzug seinen individuellen Charakter. Im Herzen der Margarethenhöhe liegt der malerische Marktplatz mit seiner Achse aus Gasthaus, Brunnen und der Kruppschen Konsumanstalt, heute ein Supermarkt. Metzendorf plante aus einem Guss mit zahlreichen Versatzstücken aus seinem persönlichen Baukasten. Aber er hat dies gekonnt kaschiert: Die ein- bis zweigeschossigen Häuser treten mal vor, mal zurück, sind mit Kunst verschönt, tragen mal spitze, mal runde Giebel, Walm- oder Zwerchdächer, unterschiedliche Türen, Außenläden und Fenster. Hinter den Fassaden erwartete die Bewohner der immer gleiche Komfort, für die damalige Zeit unerhört. Jede Wohneinheit verfügte über ein eigenes Wasserklosett und eine Badewanne. Beheizt wurde mit einem eigens von Metzendorf entwickelten, kombinierten Heizungs- und Belüftungssystem, effektiv und energiesparend. 1911 wurden die ersten begehrten Wohnungen bezogen, die Menschen waren schlichtweg begeistert. Bis 1938 konnte Metzendorf sein Werk vollenden.



Zeitloser Charme

Der Zweite Weltkrieg brach jäh in die Idylle zwischen Nachtigallen- und Mühlbachtal ein: Die Margarethenhöhe wurde stark zerstört. In den 50er Jahren folgte der Wiederaufbau in historischer Form. Seit 1987 steht die Siedlung unter Denkmalschutz. Bis heute bezaubert sie Einwohner wie Gäste durch ihren besonderen Charme. Freiwillig zieht hier keiner mehr weg.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016