Lasst uns nicht im Stich!

Kirche weltweit
14. Mai 2017 | von

Ein Journalist unserer italienischen Sendbotenausgabe hat mit dem syrisch-katholischen Erzbischof der Diözese Hassaké, zu der auch Raqqa, die Hochburg des Kalifats in Syrien, gehört, gesprochen. Christen und der Krieg sind dort das große Thema. Der Appell von Erzbischof Jacques Behnan Hindo: „Es ist keine Zeit zu verlieren. Die UNO und die NGOs müssen uns helfen!“

Er wird nicht müde, von den Gräueltaten zu sprechen, die seinem Volk angetan werden: Etwa sieben Jahre lang herrscht schon ein schrecklicher Krieg, der dem syrischen Volk unendliches Leid bereitet. Ein Kreuzweg von Hunger, Angst und Tod – und alles noch verstärkt durch das internationale Desinteresse und die Sanktionen gegenüber der Regierung. Monsignore Jacques Behnan Hindo ist der syrisch-katholische Erzbischof der Erzeparchie von Hassaké-Nisibi. Das Gebiet seiner Diözese reicht vom Norden bis zum Süden der Stadt Qamischli an der Grenze zur Türkei bis zur zerstörten Stadt Deir Al Zor an der Grenze zum Irak. Im Osten reicht sie bis nach Raqqa, der Hauptstadt des Kalifats von al-Baghdadi. Im Jahr 2016 hat das Vorrücken der dschihadistischen Milizen zu einem Massen-Exodus von 120.000 Menschen geführt. Seit jeher steht Monsignore Hindo in erster Reihe, wenn es darum geht, die Menschen in seinem Land zu unterstützen. Heute ist er sozusagen das Sprachrohr für die Schmerzen und das Leid dieses Landes. Wir haben mit ihm gesprochen. 

MSA: Monsignore Hindo, Hassaké ist eines der vom Krieg am schlimmsten betroffenen Gebiete in Syrien. Was hat sich geändert seit dem Beginn des Konfliktes 2011?
Hindo: Alles! Alles ist anders. Wo Wohlstand und Sicherheit herrschten, erleben wir jetzt Armut, Gewalt und Tod. Vor dem Krieg konnte ich sorglos von Hassaké nach Beirut fahren, heute muss man für diese Strecke wegen ernster Gefahren das Flugzeug nehmen.
Früher war das Gouvernement ein sehr fruchtbares Gebiet. Das Gebiet liegt zwischen zwei Flüssen, dem Tigris und dem Euphrat. Zu Friedenszeiten nannte man es die „Kornkammer Syriens“. Hier lebten vor dem Krieg circa 200.000 Christen, fast 15 Prozent der gesamten Bevölkerung. Sie verteilten sich auf unterschiedliche Konfessionen: syrisch-katholisch, syrisch-orthodox, katholische Armenier, Chaldäer, Ost-Assyrer. Sie lebten von Landwirtschaft und Industrie und erwirtschafteten so 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts des Gouvernements. 
Und heute? Heute leben hier nur noch halb so viele Christen. Viele sind geflohen, um nicht Opfer der Auseinandersetzungen zwischen der demokratisch-syrischen Armee (kurdische und lokale beduinische Milizen) und dem IS zu werden. Viele Städte werden von der Regierung in Damaskus kontrolliert, andere von der bewaffneten kurdischen Miliz YPG, wieder andere vom IS. 

Raqqa gehört zu Ihrer Diözese. Welche Risiken gibt es? 
Der Islam kennt die freie Religionswahl nicht, und Christen sind nur toleriert, wenn sie zahlen. Wenn der Islam sich geschwächt fühlt, akzeptiert er alles, wenn er sich stark fühlt, beruft er sich auf die Sharia und verlangt einen Tribut. Der syrische Islam jedoch ist sozusagen ein genetisches Produkt aus verschiedenen Invasionen und unterscheidet sich sehr vom harten und „reinen“ Islam der Wahabiten Saudi-Arabiens, dem Daesh (IS) und der Al-Nusra-Front.

Und alles wird noch schlimmer durch die Sanktionen gegenüber der syrischen Regierung... 
In diesen fünf Jahren haben diese Sanktionen mit dazu beigetragen, das syrische Volk zu zerstören und es verurteilt zu Hunger, Epidemien, Not. Außerdem haben sie den Terror-Milizen in die Hände gespielt. Diese Sanktionen bestrafen unser ganzes Volk.

Sie sind auch der Bürgermeister von Hassaké. Sie mussten in der letzten Zeit einige Notsituationen bewältigen. 
Ich muss das Leid meiner Leute teilen. Ihr Schmerz ist auch mein Schmerz. Das ist eine Selbstverständlichkeit für mich. Hier mangelt es an allem. Ich habe mehrere Tage lang Brot in eine besetzte Stadt gebracht. Ich habe es an alle verteilt, an Christen und Moslems, ohne Unterschied. Denn wir alle sind Kinder Gottes. Und Gott liebt uns alle, ohne Unterschied.

Was sind die konkreten Notsituationen? 
Es mangelt an Nahrungsmitteln, an Wohnungen und Arbeit. Hier haben sich kurdische und syrische Milizen bekämpft. Es gibt keine Schulen mehr. Das Amt, das Ausweise und Reisepässe ausstellt, wurde besetzt, ebenso wie Dutzende Häuser und Korn- und Baumwolllager im christlichen Viertel. Viele Verkehrsmittel der Stadt wurden von den bewaffneten Kurden beschlagnahmt.
Das bedeutet auch, dass es schwierig ist, sich fortzubewegen oder Hilfsgüter in die Stadt zu bringen.
Der Daesh untersagt jede Form der Bewegung. Die einzige Möglichkeit ist, mit dem Flugzeug von Qamischli nach Damaskus zu fliegen. Alles, was hier ankommt, kommt auf dem Luftweg.

Man spricht von vielen Opfern, darunter auch vielen Christen.
Die Christen sind nicht die einzigen Opfer, sie sind nur ein kleiner Teil der bislang 200.000 Toten. Der Daesh ist gegen alle: Er ermordet vor allem Schiiten, Alawiten und auch alle Sunniten, die sich ihm nicht unterwerfen wollen. Den Christen wird die Möglichkeit zugestanden, zu fliehen oder eine Steuer zu zahlen. Für alle anderen gibt es nur eine einzige Alternative: den Tod.

Viele Christen sind geflohen. Gibt es für sie Hoffnung auf eine Rückkehr?
Ja, viele sind weggegangen. Und die, die geblieben sind, erleben ein unmenschliches, schreckliches Drama. Es ist schwierig, unter diesen Umständen zu überleben. Aber Syrien braucht alle seine Kinder. Um den Frieden zurück in die arabische Welt zu bringen, muss Syrien gestärkt werden, damit die arabische Welt ihren großen Reichtum an Zivilisation und Zusammenleben wiederfinden kann.

Auch Sie selbst haben Ihr Leben riskiert...
Man lebt immer mit dem Risiko. Einmal bin ich fast vom Projektil eines Scharfschützen getroffen worden, der vor dem Erz-
bischöflichen Sitz auf Stellung war. Das Projektil hat mich gestreift und ein tiefes Loch in der Mauer hinterlassen. Leben oder sterben sind jeden Tag die zwei einzigen Möglichkeiten.

Der Papst ist dem „geliebten Syrien“ immer sehr nahe.
Papst Franziskus ist ein großer Segen, eine Gnade Gottes, für das leidende syrische Volk. Er ist ein Mann des Gebetes, aber auch ein Papst, der sich konkret mit den Problemen auseinandersetzt und keine Angst hat, das zu sagen, was er denkt und persönlich dafür einzustehen. Seine kontinuierlichen Appelle berühren uns, wir fühlen uns, als würden wir einer großen Familie angehören. Er ist ein gutes Beispiel für die ganze Welt. Er treibt dazu an, den Weg des Friedens, der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit einzuschlagen. Seine Entscheidung, den apostolischen Nuntius für Syrien, Mario Zenari, zum Kardinal zu weihen, ist eine Geste großer Aufmerksamkeit unserem Volk gegenüber. 

Sie haben auch Präsident Baschar al-Assad getroffen.
Ja, ich hatte ein Gespräch mit ihm. Ich habe von unserer Situation gesprochen, unseren Problemen und Projekten. Von unserem Einsatz für den Dialog und ein friedliches Zusammenleben. Syrien ist das Rückgrat der arabischen Welt. Alle Bürger fühlen sich zugehörig, unabhängig von ihrer Religion: Es gibt nicht „den Moslem hier“ und „den Christen dort“, wir sind alle Araber. In Syrien sind wir alle Syrer. Heute ist die Situation der Christen jedoch besonders schwierig. Aber von dem Krieg ist die gesamte syrische Bevölkerung betroffen.

Donald Trump hat die Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus Syrien und dem Mittleren Osten in die USA als „vorrangig“ eingestuft, will aber gleichzeitig die Grenzen für Menschen aus sieben mehrheitlich islamischen Staaten schließen.
Wir Christen hier machen nicht gerne einen Unterschied zwischen uns und den Moslems. Unsere tausendjährige Geschichte hat uns gelehrt, dass es möglich ist, mit anderen Religionen friedlich zusammenzuleben. Wenn man diskriminiert, riskiert man, Fanatismus und Extremismus zu fördern. Als Christen wollen wir, dass man uns hilft, dass wir nicht fliehen müssen und dass wir weiterhin friedlich unseren Glauben leben können.

Eine konkrete Hoffnung ist das neue christliche Krankenhaus von Hassaké.
Diese Struktur soll die Kriegsverletzten aus al-Dschazira, dem Nordosten Syriens, aufnehmen. Es ist das Zeichen unserer Zähheit, unseres Willens, nicht aufzugeben. Es wird das größte Krankenhaus in der ganzen Gegend sein, mit Laboren und auf Onkologie und Kardiologie spezialisierten Abteilungen. Es wird allen offenstehen, unabhängig der jeweiligen Identität.

Sie haben sich selbst als „Bettler des Friedens“ bezeichnet.
Ich lade alle ein, den Dialog und die Zusammenarbeit in Syrien wieder aufzunehmen. Die arabische Welt muss in Syrien wieder den Sinn eines friedlichen Miteinanders finden, und das kann sie nur aus dem Inneren heraus – dabei müssen die vielen, nicht immer uneigennützigen Einflüsse des Auslands außen vor gelassen werden. Die Christen sind bereit, ihren Teil dazu beizutragen. Ich wende mich an alle Menschen, die guten Willens sind. Ich bitte die Europäer und die ganze Welt, Syrien nicht zu vergessen. Seien Sie uns gegenüber gastfreundlich und solidarisch!

Was bringt Sie dazu, so unermüdlich zu kämpfen?
Ich kämpfe für mein Volk. Ich bin überzeugt, dass Syrien auferstehen wird. Das liegt in unseren Genen!

Zuletzt aktualisiert: 14. Mai 2017
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