Lebenselixier Kunst

21. November 2008 | von

 Kultur besitzt, abgesehen von Ereignissen mit Event-Charakter, einen sinkenden Stellenwert in unserer Gesellschaft. Dabei hat sie – vor allem wenn sie durch Ästhetik anspricht – positive Effekte: Sie schenkt Wohlbefinden, weckt Kreativität, fördert die kognitive Entwicklung. Ihr Beitrag zu einem erfüllten Leben ist wesentlich: Ohne Kultur gibt es kein Menschsein. 



Glaubt man den aktuellen Ergebnissen der Jugendbildungsstudie des renommierten Allensbach-Instituts, ist Kultur ein Auslaufmodell. Die Zahl der jungen Menschen, die sich mit Literatur beschäftigen und klassische Musik mögen, ist auf magere 15 Prozent gesunken. Die neuen Medien wie Computer, Internet, Spielkonsole, Videokamera oder Mobiltelefon haben mit ihrem explodierenden Angebot an interaktiven Möglichkeiten das klassische Bildungsgut zum alten Eisen geworfen. Die meisten jungen Menschen klicken sich am Computer durch ein schier grenzenloses Angebot an Beliebigkeiten. Persönlichkeitsbildung durch Beschäftigung mit Musik, Malerei und Literatur, die im Hörer, Betrachter, Leser Emotionen wecken und kognitives Denken fördern, ist häufig eine Angelegenheit von Bildungsgrad und Finanzkraft der Familien geworden. Und in Zeiten leerer Kassen fahren Kommunen wie Länder die Kulturförderung drastisch herunter. Kunst- oder Musikstunden fallen häufig wegen Lehrermangels aus, Naturwissenschaften oder Sprachen scheinen zur Bewältigung der Zukunft Nützlicheres zu vermitteln. Kultur wird zum Luxus.



Diesem nicht auf die Gegenwart beschränkten Desinteresse hielt schon Pablo Picasso einen Satz zum Innehalten entgegen: „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele."



Gehirn meldet „Glück"



Wenn es um die positiven Einflüsse der bildenden Kunst auf die Psyche geht, geht es in aktuellen Studien meist um ästhetische Kunst, was sicher nicht bedeuten soll, dass aufrüttelnde, zeit- und sozialkritische Kunst nicht der Beschäftigung wert sei. Wie Wahrnehmungspsychologen heute die Gesetze der Ästhetik erforschen, darüber berichtete etwa das Magazin „Gehirn & Geist" (3/2006). Gesucht wurden Prinzipien, die Künstler angewandt haben und anwenden, um den Betrachter zu dem Urteil gelangen zu lassen: „Dieses Bild ist schön." Da geht es beispielsweise um die Gesetze der Perspektive oder um die Verhältnisse von Farb- und Lichtwerten. Das Gehirn nämlich nimmt Formen durch Helligkeitsunterschiede war. Ferner verarbeitet es regelmäßig wiederkehrende Formen leichter. Das Wiedererkennen bewirkt somit eine flüssige Reizverarbeitung. Und dies, so die These der Forscher, macht Freude.



Denkt man an die Ablehnung der Impressionisten 1874 im Pariser Salon, der – noch an pathetisch-akademische Themen gewöhnt – mit den luftigen, fließenden Lichtspielereien eines Monet, Degas, Cezanne oder Renoir nichts anfangen konnte, so belegt das ihre These, ohne etwas über die Qualität neuer Kunstrichtungen auszusagen.



Auch über die Kunstfertigkeit abstrakter Malerei wird in dem Beitrag zur Kunstwahrnehmung in „Gehirn & Geist" sinniert: Wo ist hier die Grenze zur reinen Farbkleckserei? Ein Physiker der University of Oregon soll schon 1999 Arbeiten von Jackson Pollock untersucht und entdeckt haben, dass sich dessen Werke der 40er und 50er Jahre durch eine außerordentliche Regelmäßigkeit auszeichnen, dass ein Ausschnitt des Bildes in der Vergrößerung der Gesamtstruktur glich.



Versuche, in denen Probanden vom Computer nach den ermittelten Kriterien der Regelmäßigkeit produzierte Muster vorgeführt wurden, ergaben, dass sie vom Betrachter keinesfalls gleich schön bewertet wurden wie Originale abstrakter Künstler – es muss also mehr dahinter stecken: die kreative Leistung.



Der große Kunstexperte Max J. Friedländer schrieb schon in seinem 1946 veröffentlichten Standardwerk „Von Kunst und Kennerschaft", Sehen sei Wiedererkennen der unserem Bewusstsein vertrauten Außenwelt: „Wir wählen erblickend aus, was uns zusagt, was uns gefällt, was ‚schön’ ist, so lange wir genießend schauen; wir sehen anders und anderes, sobald wir zweckhaft aufpassen, etwa eine Gefahr wittern und unser Wille gespannt wird." Auch hier wird die Wahrnehmung des Ästhetischen thematisiert. Aber wie verhält es sich mit großer Kunst, die tragische, erschütternde Szenen darstellt? Friedländer erklärt es am Beispiel des „Gekreuzigten" von Grünewald, dessen Sterbensqual so überdeutlich gestaltet ist: Elementare Gefühle, die uns durch ein Kunstwerk ansprechen, verändern „ihren Aggregatzustand". Der interessierte Betrachter sehe, „was der Künstler ihm nahe bringen will, einen Gedanken, eine Vision, vom Künstler in etwas sinnlich Wahrnehmbares verwandelt". Im Fall des gekreuzigten Christus sind das: Schmerz – Opfer – Erlösung. Dies galt laut Friedländer so lange, bis sich die Kunst von Kirche, Mythologie und Natur entfernte und die Abstraktion verherrlichte, weil ihr sogar „in der Natur noch zu viel an Geistigem, Gedanklichem in das Bild einzuströmen schien".



Gefühle färben Gedanken



Sofern ein Kunstwerk „spricht" und der Betrachter sich über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus darauf einlässt, wird er die Regungen des Gemüts spüren. Kunst und Musik – so Friedländer – greifen in unser Seelenleben ein. „Alle Kunst ist zweideutig, sagend sowohl wie singend. Indem sie etwas Tatsächliches, Konkretes zeigt, übermittelt sie gleichzeitig seelische Effekte." Allerdings, Augen und Ohren müssen diese Erkenntnis- und Erlebnisfähigkeit erwerben. Damit plädiert Friedländer für die frühe Beschäftigung mit Kultur. Nicht zuletzt auch aus folgendem Grund: „Das Gefühl und die Sinne haben ein weit besseres Gedächtnis als der Intellekt."



Auch die moderne Hirnforschung hat herausgefunden, dass emotionale Prozesse das Gedächtnis beeinflussen. Gefühle färben unsere Erlebnisse und sogar unsere Gedanken ein. Sie bestimmen auch, wie sich Wissen in unseren Köpfen speichern und abrufen lässt. Warum also das Lernen nur auf die Ratio stützen und nicht die Möglichkeiten der Kunst nutzen, uns Wissen über die Welt und das Leben anzueignen und dabei auch noch seelisch bewegt zu sein? Die frühe Beschäftigung mit bildender Kunst und Musik oder Poesie kann nach Meinung mancher Forscher Verknüpfungen vermehren und zu besonderen Lernleistungen befähigen. Bemerkenswert, dass diese Forschungen zunehmen – ein Zeichen, den Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft gegenzusteuern?



Kunstwerkstatt für Kinder



Ganz hoffnungslos scheint die Lage nicht. Eine wachsende Zahl guter museumspädagogischer Angebote sowie privater Initiativen von Künstlern und Mäzenen bringen Kinder und junge Menschen mit Musik und Malerei zusammen. So offeriert beispielsweise das Bonner Beethoven-Haus nicht nur Kinderführungen, sondern hat eine eigene Website „Beethoven für Kids" entwickelt, die spielerisch mit Leben und Werk des großen Komponisten vertraut macht. In der WELT kamen kürzlich (22.10.2008) Eske Nannen (Kunsthalle in Emden – Stiftung Henri und Eske Nannen und Schenkung Otto van de Loo) sowie Frieder Burda (Museum Frieder Burda Baden-Baden) zu Wort, denen Kinder besonders am Herzen liegen. So entwickelten beispielsweise Zehnjährige im Museum Frieder Burda in Baden-Baden nach dem Vorbild von Dürers Hasen auf Stoff etwa das „Gummibärchen auf Blumenwiese" und die „Katze auf Katzenfutter". Anders als in der Kunsthalle Emden, wo Eske Nannen schon vor der Eröffnung des Museums 1983 die Malschule für Kinder eröffnete, die heute wöchentlich Kurse für 250 Teilnehmer anbietet, gibt es in Baden-Baden keine Malschule, sondern eine Kinderkunstwerkstatt, in der in den vergangenen Jahren rund 25.000 Kinder an Kursen teilnahmen. Eske Nannen berichtete, dass sie schon 1983 in die Satzung der Stiftung schrieb, Kinder bräuchten kreative Räume, um Kunst erleben zu können. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass „Kinder gestärkt durchs Leben gehen, wenn sie Kunst erfahren. Kunst ist auch ein Prozess. Sie stoßen auch an ihre Grenzen, sie lernen." Und Frieder Burda ist sich sicher: „Der spielerische Umgang mit der Kunst wirkt passivem Verhalten entgegen, fördert das Selbstbewusstsein, die Phantasie und die Kommunikationsfähigkeit."



Ästhetische Schmerztherapie



Kunst fördert also die Entwicklung, und sie kann noch mehr. Schöne Gemälde im Krankenzimmer können Schmerzen lindern. Eine aktuelle italienische Studie eruierte die Einwirkung von bildender Kunst auf das Schmerzempfinden. Wohlklingende Musik, das weiß man längst, wirkt auf Kranke wohltuend. Nun wurden Personen im Alter zwischen 22 und 38 Jahren aufgefordert, ihr Lieblingsgemälde aus einer Website herauszusuchen, Favorit vieler war Botticellis Gemälde„Geburt der Venus". Dann wurden die Probanden aufgefordert, ihr Lieblingsbild, eines das sie als besonders unschön empfanden oder schlicht die weiße Wand zu betrachten, während ihnen kurze Laserlichtpulse – vergleichbar einem Nadelstich – auf die Hand gegeben wurden. Diejenigen, die ein ästhetisches Bild betrachteten, empfanden weniger Schmerz. Die Betrachtung anderer Bilder oder der weißen Wand hatte weder einen positiven noch einen negativen Einfluss auf das Schmerzempfinden. Parallel wurden die Hirnströme der Testpersonen untersucht und es ließ sich belegen, dass die Hirnaktivität geringer war, wenn ein schönes Bild den Schmerz subjektiv verringerte.



Altes Wissen



Bemerkenswerterweise gab es schon im Rom des Mittelalters ein Beispiel für den Einsatz von Musik und Malerei in einem Krankensaal: in „Santo Spirito" in Rom. Hier ließ der Minoriten-Papst Sixtus IV. das unweit der Engelsburg gelegene Spital erweitern und umbauen. In die Mitte des Krankensaals kam eine Orgel und dazu Emporen, von denen aus der Chor der Sixtinischen Kapelle mit seinem Gesang das Wohlbefinden der Leidenden befördern sollte. Die Wände wurden reich mit Fresken geschmückt, denn auch der visuelle Genuss sollte zur Genesung beitragen. Ist also der Umgang mit klassischer Musik, Gemälden, Dichtung nicht nur unterhaltsam und lehrreich, sondern auch heilsam? In der idealistischen Epoche der Klassik, als Kunst der Bildung dienen wollte, konnte Friedrich Schiller in einem Brief schreiben: „Mittelmäßiger Umgang schadet mehr, als die schönste Gegend und die geschmackvollste Bildergalerie wieder gut machen können." In dieser Aussage steckt die Annahme, Natur und Kunst seien fähig zu heilen. So empfahlen sich für Schiller bezaubernde Landschaften und ästhetische Gemälde als Gegenmittel zur Oberflächlichkeit.



Naturpsychologie



Wem ist nicht schon einmal beim Erlebnis einer schönen Umgebung „das Herz aufgegangen"? Schon vor Jahren registrierten Kurärzte am Bodensee, dass die Morgengymnastik, die bei gutem Wetter auf einer Uferwiese stattfindet, bei den Patienten harmonischer und runder ausfiel, als wenn dieselbe Gruppe in der Sporthalle ihre Übungen absolvierte. Wieder einmal ist Ästhetik im Spiel. Die noch junge Disziplin „Naturpsychologie" untersuchte solche „therapeutischen Landschaften" und kam zu dem Ergebnis, dass etwa der Blick über eine sanft hügelige Landschaft Hirnströme, Hormone und Botenstoffe beeinflusst, Herzschlag und Blutdruck messbar senkt. In der Folge hellt sich die Stimmung auf, Wohlbefinden stellt sich ein. Hermann Hesse schrieb 1949 diese Zeilen: „Unser gehetztes Arbeitsleben nicht völlig seelenlos werden zu lassen, seinem Riesenmechanismus die Maße und die Werte des Menschlichen und Organischen entgegenzuhalten, ist heute wohl die wichtigste Form jeder Kunst." Welchen Kommentar er wohl im 21. Jahrhundert abgegeben hätte? Wenn wir uns in unserer immer mehr technisierten Welt, in der Cool-Sein vielfach das Credo junger Menschen ist, immer mehr der Reizflut seelenloser Inhalte überlassen, ohne gegenzusteuern, wie wird sich das auf uns auswirken? Der Sammler und Mäzen Frieder Burda dazu: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Gesellschaft, je besser es ihr geht, umso leerer und blanker in diesen Kunstdingen wird, die doch ein Lebenselixier sind." Die Zeiten werden härter, und vielleicht werden die längst erspürten, nun zunehmend wissenschaftlich untermauerten kulturellen Werte wieder ihren Stellenwert bekommen. Kunst ist kein Luxus.



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016