Projekt 13. Juni: Zuhause bei den Unsichtbaren

01. Juni 2018 | von

Das Projekt, das die Caritas Antoniana dieses Jahr zum 13. Juni ausgewählt hat, bewegt sich auf einem schmalen Grat. Auf den ersten Blick scheint alles einfach zu sein: In Jama in Ecuador sollen 75 Häuschen gebaut werden, nachdem dort vieles durch das Erdbeben vom April 2016 zerstört wurde. In Wirklichkeit bedeutet es aber viel mehr, denn das eigentliche Ziel ist es, den bettelarmen Familien die Hoffnung wieder zu geben. Eine große Herausforderung!

Ich bin mitten im Urwald und habe das Gefühl, am Ende der Welt zu sein. Ich befinde mich im Norden von Ecuador, im Hinterland der kleinen Stadt Jama in der Provinz Manabì. Der Pazifische Ozean ist nur ein paar Schritte entfernt. Man spürt seine mächtige Präsenz. Ich halte einige Bilder des heiligen Antonius in der Hand, eines davon reiche ich dem Bauern mit dem ausgewaschenen T-Shirt, der mir gegenüber steht: Er bedankt sich auf etwas unbeholfene, fast abwesende Art. P. Fabio und ich sind von schweigenden Menschen umgeben. Sie sind freundlich und zeigen den typischen Respekt, den man Fremden entgegenbringt. Aber ich habe das Gefühl, dass sie sich von der Hoffnungslosigkeit haben besiegen lassen. 

Können wir helfen?
Vielleicht glauben sie nicht, dass wir ihnen helfen können. Vielleicht wissen sie noch nicht einmal genau, wer wir sind. Ob wir wohlmöglich einfach nur mal vorbeischauen und dann unverrichteter Dinge wieder abziehen? Ich schaue mich etwas genauer um. Irgendetwas ist komisch. Egal, wo ich bisher war, auch am allerärmsten Ort, waren die Kinder doch immer Kinder. Lebhaft, neugierig, laut. Hier sprechen sie nicht, sie spielen nicht, sie lächeln nicht. Ich nehme ein anderes Antoniusbildchen und fühle mich leicht verlegen. Ich will es einem Mädchen geben und denke mir dabei: „Du, Antonius, hast alles daran gesetzt, dass wir hierher kommen!“ Das freundliche Gesicht des Heiligen scheint ein schelmisches Lächeln anzudeuten. Ich schaue auf P. Fabio. Ich lese in seinem Gesicht dieselbe Unsicherheit. Wir sind nie genug vorbereitet. Die Armut stellt einen auf eine harte Probe, sie fordert die Seele heraus, zerreißt alle Sicherheiten. Der heilige Antonius wollte hierherkommen, wo die Hoffnung ins Wanken geraten ist, im Herzen dieses Urwaldes, wo niemand ihn kennt. Sind wir bereit, diese Herausforderung anzunehmen?
Alles begann mit dem schrecklichen Erdbeben vom 16. April 2016. Nach zwei Jahren weiß man noch immer nicht genau, wie viele Menschen dabei ums Leben gekommen sind, vielleicht 800, vielleicht 1.000. Der Grund dafür ist, dass in den Städten Hilfe eingetroffen ist, aber die Bewohner der vielen Dörfer im Regenwald von diesen Hilfsleistungen ausgeschlossen sind. Es sind keine Indios, sondern Gruppen von Bauernfamilien, die wegen der großen Armut in den Wald gezogen sind, wo sie von bescheidener Landwirtschaft lebten. Aber was ist aus ihnen geworden?

Ein alter Bekannter ruft um Hilfe
Ja, und es ist eben genau das Erdbeben, das sie wieder zum Vorschein gebracht hat, wie als Beweis, dass auch in der schlimmsten Situation in der Nacht die Sterne leuchten. Zum ersten Mal hat uns P. Walter Coronel von diesen Menschen erzählt, der schon in der Vergangenheit Projektpartner für einige Initiativen der Caritas Antoniana gewesen ist. Er ist ein Priester, der dafür bekannt ist, dass er sich immer die schwierigsten Pfarreien ausgesucht hat, im Herzen des Amazonasgebietes, wo er seine Pfarrkinder immer besucht, egal wo sie leben und egal, welchen Aufwand er dafür betreiben muss: Er ist unterwegs zu Fuß, mit dem Kanu, auf dem Pferd. Genau der richtige Typ – so sieht es der Erzbischof von Portoviejo, Lorenzo Voltolino, der aus Brescia stammt – um den Menschen, die auf viele kleine Dörfer verteilt sind, zu helfen.

Eine beschwerliche Reise
„Kein Projekt nach dem Erdbeben“ haben wir Pater Walter geantwortet, als er uns angesprochen hat. „Auch in Italien bebt es ständig.“ P. Walter aber hat nicht aufgegeben: „Wenn es nur das Erdbeben wäre… ihr müsstet kommen und die Situation mit eigenen Augen sehen…“ . Also bereiteten Pater Fabio und ich uns auf die Reise vor. Und die Reise beginnt nicht gut. 14 Stunden Verspätung in Amsterdam und eine Nacht neben Bäumen aus Plastik und künstlichem Vogelgezwitscher. Eine ironische Anspielung auf den Regenwald von Ecuador, der uns erwartet. Die erste Etappe ist Quito, der Konvent unserer Mitbrüder, der auf fast 3.000 Metern Höhe liegt, in einer alten Stadt, die einen in die Zeit der „Conquistadores“ zurückversetzt. Ich gehe ziemlich erschöpft schlafen, am nächsten Tag wartet eine lange Reise auf uns: von den Gipfeln der Anden zum Pazifischen Ozean.
Im Morgengrauen werden wir von Vogelgezwitscher, diesmal echtem, geweckt. Wir brechen um 4.00 Uhr auf, begleitet von Br. Marco. Auf dem Weg ändert sich die Landschaft ständig. Auf trockene Zonen folgen grüne Wiesen und Hügel. 600 Kilometer, aber die Fahrt dauert ewig. Marco erklärt uns, dass in den letzten Jahren der Unterschied zwischen arm und reich noch deutlicher geworden ist. Jama, unser Ziel, ist ein gutes Beispiel dafür. Nur fünf Familien von insgesamt mehr als 10.000 Einwohnern besitzen alle Betriebe der Gegend, vor allem die sehr lukrative Krabbenzucht. Das Erdbeben, das Jama massiv zerstört hat, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Wir verlassen die Hauptstraße und finden uns in einer immensen Staubwolke wieder. Es gibt hier keine asphaltierten Straßen, manchmal kommen wir an Schlaglöchern vorbei, die fast so groß sind wie kleine Tümpel. 
P. Walter ist genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe: ein reißender Strom. Er hat ein großes Problem mit den Augen, das jeden anderen in eine tiefe Krise stürzen würde. Er aber rastet nicht, es ist so, als ob diese Einschränkung ihm vielmehr Kraft geben würde: Er grüßt, tröstet, umarmt. Eine völlige Verfügbarkeit für seinen Dienst. Das, was mich an ihm am meisten beeindruckt, ist, dass er auch schwierigsten Situationen mit einem breiten Lachen gegenübertritt. Er lässt sich nicht instrumentalisieren, aber vor allem besitzt er nichts. 

Begegnungen, die ans Herz gehen
Am nächsten Tag brechen wir auf nach „Las Palmitas“, ein exotischer Name für ein kleines Dorf im Urwald um Jama. Hier leben, von der Welt abgeschnitten, 15 Familien, die Kakao anbauen. Hier ist die erste Baustelle schon eröffnet, um die Art der Häuser, die wir für dieses Projekt ausgewählt haben, zu testen. Wir versuchen, das Eis zu brechen. Ich bitte darum, einige von den Menschen, denen wir helfen werden, kennenzulernen. In meiner Hand die Heiligenbilder, die jede Familie dann in ihrem neuen Heim aufhängen wird. 
Mir fällt auf, dass es hier keine Baracke gibt, in der nicht mindestens zwei Behinderte leben. Tomasa, 35 Jahre alt, ist taub und blind und hat sieben Kinder, sechs davon haben dasselbe Problem wie sie. Die Begegnung, die mir am meisten ans Herz geht, ist die mit Isabel, neun Jahre alt. Sie stellt sich mir vor, indem sie sich vor ihre gesamte Familie stellt. Ich finde das seltsam, da es hier so zu sein scheint, dass sich die Kinder eher hinter ihren Eltern verstecken. Sie fixiert mich in Stille. Ich verstehe nichts und versuche, einen Kontakt zu den Erwachsenen herzustellen: drei junge Onkel und die Mutter. Keine Antwort. Ich bin verwirrt, mit meinem Heiligenbild in der Hand. Ich bin echt in Schwierigkeiten, bis eine Nonne mir die Lage erklärt: „Das Mädchen ist die Einzige in der Familie, die sprechen und hören kann.“ Isabel hat ein Engelsgesicht und verhält sich wie eine Frau, denn sie weiß, dass sie der einzige Kontakt zur Außenwelt für ihre Familie ist, sie beschützt die anderen, hat sie an die Hand genommen.   

Der heilige Antonius braucht uns
P. Walter bemerkt meine Verwunderung: „Ja, hier gibt es viele Behinderte. Der Hauptgrund dafür mag die Isolation sein und die Tatsache, dass Blutsverwandte untereinander heiraten. Aber es könnte auch an einem anderen Problem hängen. Dafür bräuchte man allerdings genauere Untersuchungen, aber wir haben ja noch nicht einmal Geld für das Nötigste.“
Nun verstehe ich die Stille, die Kinder, die nicht spielen, dieses erstickende Gefühl, sich an einem Ort zu befinden, ohne Hoffnung und ohne Geschichte. Ich habe noch nie eine so große Armut gesehen. Ich frage, ob es jemanden gibt, der diese Menschen betreut. „Einige Schwestern sind aus der Stadt hierher gezogen,“ erklärt mir P. Walter, „sie leben jeden Tag mit ihnen. Sie weben an der Hoffnung, mit vielen kleinen, liebevollen Gesten.“

Endlich: Hoffnung und Träume!
Am nächsten Tag besuchen wir ein anderes Dorf. Trotz der Armut und der noch größeren Entfernung zu Jama hat hier eine neue Geschichte begonnen. Motor des Ganzen ist Mirian, die Nonne von „Buonos Aires“, dem Namen einer Ansammlung von einer Handvoll Baracken. Sie erwartet uns an der Kreuzung zur „Hauptstraße“. Sie ist angezogen wie die anderen Frauen hier. Der einzige Unterschied ist ein großes Kreuz, das sie um den Hals trägt. Sie wohnt in einem kleinen Häuschen, das der Bischof bauen ließ, und lebt von den Almosen ihrer Pfarrkinder, ist aber auch ihr Bezugspunkt. Sie kämpft, um ihnen Land und Häuser zu geben. Sie arbeitet mit den Frauen und den Kindern. Auch hier gibt es viele Behinderte und große Armut, aber das Leben scheint wieder Farbe anzunehmen. Die größte Baracke wurde der Gemeinde und den Besuchern des heiligen Antonius zur Verfügung gestellt. Wir betreten das Holzhaus und atmen erleichtert auf. Endlich wird gefeiert. Die Frauen kochen, die Kinder sind wieder Kinder, laut und lebhaft. Wir geben ihnen Papier und Stifte, damit sie das Haus malen können, das sie sich vom heiligen Antonius wünschen. Sie legen sich auf den Boden und beginnen zu träumen. Damian malt eine große Sonne über sein Haus, Kevin malt noch ein Auto dazu, Carlita hätte gerne ein Haus mit Flügeln. Das neue Haus wird ihr Leben verändern, die Familien und die Gemeinde wieder aufbauen. Die Farben werden zurückkehren, die Sonne von Damian, die Flügel von Carlita. Hoffnung kann auch dort gedeihen, wo sie verloren gegangen zu sein scheint. 
Es ist wunderbar, gemeinsam Kirche zu sein. Wir schenken die Häuser, die Schwestern erfüllen sie mit Leben, P. Walter und sein Bischof kümmern sich um das Seelenheil. Der heilige Antonius hat uns hierher geführt, ans Ende der Welt, wo wir alleine nie hingekommen wären. Er hat uns eingeladen, die Häuser der Unsichtbaren zu betreten, aber nun braucht er unsere Hilfe, um die Hoffnung wieder aufblühen zu lassen.

Unser Projekt
Wir wollen 75 Häuser in den Dörfern im Urwald, im Hinterland von Jama, bauen. Nach einer genauen Analyse seitens der Caritas Antoniana wurden zwei Arten ausgesucht:
60 Häuser vom Typ „Hogar de Cristo“: Diese Häuser sind für den Urwald geeignet. Sie haben zwei Stockwerke. Das Erdgeschoß ist gemauert und beherbergt Küche und einen Arbeitsraum. Das Mauerwerk schützt vor Schlamm und Schlangen. Im oberen Geschoss befinden sich die Schlafzimmer. Es ist aus Bambusrohr, das luftdurchlässig ist und ein wenig von der tropischen Feuchtigkeit abhält. Jedes dieser Häuschen kostet € 3.950,00.
15 Häuser vom Typ „Mato Grosso“: Einstöckige gemauerte Häuser für die ärmsten Familien in der Peripherie von Jama. Jedes Haus kostet € 4.250,00. 
Die Gesamtkosten belaufen sich nach dem derzeitigen Wechselkurs auf ca. € 300.000,00.

 

Zuletzt aktualisiert: 01. Juni 2018
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