Spieler in Sachen Suspense

01. Januar 1900

Noch keiner hat Alfred Hitchcock an Meisterschaft in der Filmgattung eingeholt, die er gleichsam erst begründet und in den Künstlerrang emporgehoben hat: im melodramatischen Thriller. Alle Nachahmungsversuche beweisen, daß sich ein Hitchcock-Film nicht ohne Hitchcock machen läßt. In Hitchcock vereinigten sich der Hang zu außergewöhnlichen Geschichten, der Wille, das Publikum zu führen und zu fesseln, die Fähigkeit, die eigene Angstbesetztheit im Film zu bannen.

Thriller mit Alltagsmenschen. Das Handwerkszeug hatte sich Hitchcock während der Stummfilmzeit erworben. Obwohl er in den dreißiger Jahren der führende Regisseur Englands war, war Hitchcock kein britischer Regisseur.
Die amerikanische Filmtechnik hatte ihn mehr als alles in Europa geprägt. Doch als er 1939 nach Amerika ging, hatte er zunächst Schwierigkeiten, sich mit seinen Filmgeschichten durchzusetzen. Da in Amerika Thriller als zweitklassig galten, wollten die Stars sich nicht dafür hergeben.
Auf Stars wollte Hitchcock aber nicht verzichten. Nach Ansicht Hitchcocks braucht der Schauspieler zwar eigentlich gar nichts zu machen. Er muß ein ruhiges und natürliches Benehmen haben, ... und er muß es hinnehmen, daß er benutzt und vom Regisseur und der Kamera in den Film eingebaut wird. Aber gerade das leisten nur herausragende Darsteller mit ausgeprägter Selbstbeherrschung.
Während Hitchcock in den weiblichen Hauptrollen unterkühlte Blonde wie Ingrid Bergmann und Grace Kelly liebte, bevorzugte er für die männlichen den Schauspieler des Alltagstyps, da seine Helden, wie ein Kritiker bemerkte, Alltagsmenschen sind, die in nicht alltägliche Situationen geraten. Hitchcock benutzte den Bekanntheitsgrad der Stars auch, um das Publikum stärker gefühlsmäßig am Film zu beteiligen. Je vertrauter, je lieber ein Darsteller dem Publikum, desto mehr nimmt es an seinem Filmschicksal anteil.

Suspense erzeugt Emotionen. Überhaupt zielen die Filme Hitchcocks auf das Gemüt. Der Zuschauer soll sich in den Personen wiedererkennen. Um Gefühle darzustellen, kam Hitchcock ohne Worte oder übertriebenes Minenspiel aus. Mit Gegenständen wie einem Schlüssel in Berüchtigt oder einem Glas Milch in Verdacht stellte Hitchcock gedankliche Verbindungen her, die seelische Abläufe erklärten und sichtbar machten.
Hitchcock wollte nicht in erster Linie den Kritikern gefallen, die den Erzählstoff allzusehr nach der Glaubwürdigkeit beurteilten, sondern dem Publikum, das unterhalten, nicht gelangweilt sein mochte. Das Mittel Hitchcocks gegen die Langeweile war der Suspense, die Spannung, die nicht zu Atem kommen läßt. Häufige Ausgangslage ist, daß der Zuschauer früher von einer Gefahr weiß als die Handelnden im Film. Er sieht in Der unsichtbare Dritte als erster das Flugzeug, das gleich im Tiefflug über Cary Grant herfallen wird. In diesem Film sorgen auch das doppelte Spiel der Teilnehmer und viele plötzliche Handlungsumschwünge für ein spannungsreiches Wechselbad.

Spiel mit den Rollen. Hitchcock spielt auch mit dem Zuschauer. Er zieht ihn aus seinem unschuldigen Beobachterposten heraus und macht ihn zum Mitwisser, ja mitunter zum Mitschuldigen. Denn häufig läßt Hitchcock das Publikum mit dem Schurken bangen, daß das Böse gelinge oder unentdeckt bleibe.
Von Schuld handeln die meisten Filme Hitchcocks. Oft findet sich das Motiv des unschuldig für schuldig Befundenen, eine Vorstellung, die Hitchcock zutiefst beunruhigte. Dabei sind die Rollen gar nicht so eindeutig in Bösewichte und Unschuldige verteilt, wie es in den Filmen vordergründig scheint. Der Unschuldige muß sich nicht nur oft von falschem Verdacht reinigen, er zieht auch häufig Nutzen aus einem Mord. Täter und unschuldig Verfolgter sind in gewisser Weise miteinander verbunden wie die böse und die gute Seite einer einzigen Person.

Ängste thematisiert. In den fünfziger Jahren befand sich Hitchcock auf der Höhe seines Schaffens. In den sechzigern bis zu zum letzten Film Mitte der siebziger verdüsterten sich die Geschichten. In seinen Filmen wirkt der Katholik Hitchcock unerlöst. Streng religiös erzogen, war er als Kind früh in ein von Jesuiten geführtes Internat gekommen, wo man ihm, wie Hitchcock es selbst in der Rückschau deutete, durch die Prügelstrafe eine geradezu körperliche Angst vor dem Bösen einflößte.
Die meisten der Filme Hitchcocks, auch die frühen, handeln von Angst und von gestörten bis krankhaften Beziehungen zwischen Mann und Frau. Diese Leitgedanken zwängte er in bisweilen abenteuerliche psychoanalytische Konstrukte und gewandtete sie in kurzweilige Unterhaltung mit höchstem filmischen Anspruch. In dieser Verpackung sind sie beim Publikum beliebt. Dem wird auch wieder das Fernsehen Rechnung tragen mit zahlreichen Ausstrahlungen seiner Werke aus Anlaß des hundertsten Geburtstages am 13.
August 1999.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016