Sternstunde Mauerfall

22. Oktober 2009 | von

 Bonn in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989: Das Telefon klingelt den Journalisten Hans Schiemann aus dem Schlaf. Er nimmt den Hörer ab und vernimmt die sich überschlagende Stimme seines Bruders, der in Berlin lebt: „Stell Dir vor, eben hat ein Freund aus der DDR bei mir an der Tür geklingelt. Die Grenze ist offen!"



„Den ersten Stein aus der Mauer hat Ungarn geschlagen", sagt Bundeskanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 und würdigt damit die Rolle, die das Land bei der Abschaffung der deutsch-deutschen Grenze spielt. Seit Mai 1989 entwickelt sich im Eisernen Vorhang ein Loch, an der ungarisch-österreichischen Grenze beginnt man mit dem Abbau der Grenzbefestigung. Allerdings werden die Grenzkontrollen beibehalten. Am 27. Juni durchtrennen der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn den vorgelagerten Signalzaun. Das ist der Auftakt für eine Massenflucht – an Erholung denken die DDR-Bürger nämlich nicht, die zu jener Zeit auf der ungarischen Seite des Neusiedler Sees Urlaub machen.



Anfang August recherchiert Hans Schiemann als Reporter des „Rheinischen Merkur" dort auf einem Campingplatz. Die DDR-Bürger schenken seinem westdeutschen Personal- und Presseausweis jedoch keinen Glauben: „So schöne Papiere hat die Stasi auch." Erst ein Anruf in der Redaktion bringt Gewissheit, bald diskutiert man Fluchtpläne, und aus dem Reporter wird ein Fluchthelfer. Schiemann soll mit seinem Auto auf der österreichischen Seite so parken, dass die Rücklichter seines Fahrzeugs als Orientierungspunkte im Nachtdunkel glimmen – der Westwagen als Wegweiser und Fluchtauto. „Punkt elf stellst dich so, dass man von der Straße zur Grenzstation die Rücklichter von dei’m Auto sieht." Was dann geschieht, ist auf der Reportseite des Rheinischen Merkur vom 18. August 1989 zu lesen: fünf vor elf. Vom Hochsitz runter, rotes Licht an grüner Grenze eingeschaltet ... Mit dem Leitz-Glas taste ich die Felder ab. Alles unbewegt … Null Uhr vierzehn. Über Erinnerungen bin ich eingenickt. Schüsse peitschen an mein Ohr. ... In meinem Fernglas zwei Schatten. Sie tasten sich an die roten Lichter meines Autos heran. „Sepp! Bist du’s?".. Da steht schon der Sepp und bei ihm noch einer, der Klaus, und der hat’s gerade noch geschafft. „Drei Meter neben mir sprühten nur so die Funken", sagt er. Klaus hat die Tasche mit den Personalpapieren ... ins Feld geworfen, und er hat Tina und Babette, die bei den ersten Schüssen in Deckung gingen, zurück lassen müssen.



Sonderzug gen Westen



Am 19. August findet an der Grenze bei Sopron ein mit Flugblättern angekündigtes „Paneuropäisches Picknick" statt, zu der das Grenztor drei Stunden für die österreichischen und ungarischen Teilnehmer geöffnet wird. Noch bevor die Politiker eingetroffen sind, um das bereits aufgesperrte Tor zu durchschreiten, rennen die ersten Flüchtlinge darauf zu – Männer, Frauen und Kinder. Grenzoffizier Arpad Bella entscheidet sich, keine Warnschüsse abzugeben, um sie aufzuhalten, sondern tritt beiseite: Er will ein Blutbad verhindern. Die Menschen drücken das Tor auf und stürmen in die Freiheit. Als nach einer Stunde der Kommandant des ungarischen Grenzschutzes erscheint und das Tor bis auf einen Spalt schließen lässt, sind 600 DDR-Bürger in Österreich. Am 10. September erlaubt die ungarische Regierung die Ausreise aller DDR-Flüchtlinge. Sie hat einseitig ein Abkommen mit der DDR von 1969 außer Kraft gesetzt, worauf die DDR-Regierung über eine „illegale Nacht- und Nebelaktion" wettert. Ebenfalls im August gerät die Deutsche Botschaft in Prag in den Blickpunkt der Medien, weil immer mehr DDR-Bürger dort Zuflucht suchen. Am 30. September gestattet die DDR-Führung die Ausreise dieser Menschen. Die Neuigkeit wird durch Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Botschaftsbalkon herab verkündet. Sie geht im Jubel unter. Noch in der Nacht wird ein erster von sechs Sonderreisezügen der DDR bereitgestellt, um die Botschaftsflüchtlinge über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik zu bringen – die DDR-Führung beabsichtigt, sie als Staatenlose ohne Papiere abzuschieben und versucht zunächst, unterwegs Pässe und sonstige Ausweise einzuziehen.



Auch in Warschau flüchten DDR-Bürger in die Deutsche Botschaft. Am 1. und 6. Oktober dürfen sie mit Zügen ausreisen, andere, die später die Botschaft besetzen, am 17. Oktober per Flugzeug.



„Wir sind das Volk!"



In der DDR mobilisieren die friedlichen Leipziger Montagsdemonstrationen immer mehr Menschen. Das „Neue Forum", „Demokratie jetzt" und das „Demokratische Forum" werden im September gebildet. Am 1. Oktober wird in Ost-Berlin die Bürgerrechtsbewegung „Demokratischer Aufbruch" gegründet. Am 8. Oktober formiert sich in Dresden, wo tausend Demonstranten von Sicherheitskräften eingekesselt worden sind, eine „Gruppe der 20" unter Führung von Kirchenleuten, die mit dem Oberbürgermeister ein Gespräch führen will. Mit Billigung des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, sagt OB Wolfgang Berghofen zu, die Gruppe zu empfangen. Daraufhin löst sich die Demonstration auf. Am 16. Oktober nehmen an der Montagsdemonstration vor der Nikolaikirche erstmals mehr als einhunderttausend Menschen teil. Gleichzeitig erreicht die von Süden ausgehende Demonstrationswelle Waren an der Müritz und weitere Städte im Norden. Am 17. Oktober setzt das Politbüro der SED Erich Honnecker als Generalsekretär ab, am 18. Oktober wird Egon Krenz in dieses Amt „gewählt". Obwohl er in seiner Antrittsrede eine „Wende" proklamiert, steht er für die Bewahrung des herrschenden Systems. Am 27. Oktober werden in Auer-

bach/Vogtland Plakate mit der Aufschrift „Wir sind ein Volk!" gesichtet – die Forderung nach der Wiedervereinigung steht im Raum. An Demonstrationen in Ost-Berlin am 4. November beteiligen sich eine Million Menschen. Für die Welt wird spätestens jetzt erkennbar, dass in der Mitte Europas eine Entwicklung im Gang ist, die nicht mehr gestoppt werden kann – es sei denn, mit militärischer Gewalt.



Am Abend des 9. November gibt es eine Pressekonferenz in Ost-Berlin. Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, informiert über eine neue Reiseregelung: Sie soll jedem DDR-Bürger Privatreisen ins Ausland sowie die ständige Ausreise aus der DDR ohne besondere Voraussetzungen ermöglichen. Auf die Frage des Journalisten Riccardo Ehrmann, DDR-Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, wann dies in Kraft trete, blättert Schabowski unsicher in seinen Papieren und antwortet: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich." Dabei soll die Regelung erst am nächsten Tag in Kraft treten. Doch die Nachricht verbreitet sich in Windeseile über alle Agenturen und Kanäle. Die Ost-Berliner und Trabbi-Kolonnen aus der ganzen DDR strömen auf die Mauer zu. Die Grenzposten sind nicht informiert. Unter dem Ansturm werden Übergänge geöffnet. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Es ist die Nacht der großen Emotionen. Wildfremde fallen sich ebenso in die Arme wie jahrzehntelang durch die Mauer getrennte Freunde und Familienmitglieder. In Bonn klingelt das Telefon.



Euphorie und Victory



In den nächsten Tagen wird der Eiserne Vorhang immer brüchiger. Im „Rheinischen Merkur" vom 17. November beschreibt Hans Schiemann „Freudentänze im Trabbi-Dunst" und die Woge der Begeisterung an der innerdeutschen Grenze: Fast jeder Sachse ist auf Achse, der Wochenendausflug ihres Lebens ist das. Autos und Motorräder schwärmen in bunter Doppelreihe von Ost nach West. … Die Insassen, so jung meist noch, spreizen die Finger zum Victory-Zeichen, drücken auf die Tröte: Heute hupt der Puls der Zeit. Von einer Autobahnbrücke die gewinkten Antworten schaulustiger „Bundis"; Kind und Kegel schwenken Deutschland- und Bayernfähnchen. „Ich hab’ immer geglaubt, dass von da die Russen kommen" , sagt einer hier oben, „und jetzt sind’s wahrhaftig unsere Brüder und Schwestern."



Das Wunder ruft aber auch kriminelle Geschäftemacher auf den Plan, die aus der Unerfahrenheit der neuen Bundesbürger Kapital schlagen wollen. Unter dem Titel „Verlockt, beschwatzt, verschuldet" schreibt der „Rheinische Merkur" ebenfalls am 17. November: Die Übergangslager und -wohnheime sind zu Vertreter-Eldorados geworden, in denen auch mit krimineller Energie vorgegangen wird. Für gewiefte Vertreter mit ihrem Waren- und Versicherungsbauchladen ist es bei so günstigen Voraussetzungen überhaupt nicht schwierig, in Heimen für DDR-Übersiedler Geschäfte zu machen. … In Unna-Massen wollten vier DDR’ler in der vergangenen Woche eigentlich nur ihre klapprigen Trabbis versichern lassen. Doch ein Vertreter übertölpelte sie gleich mit einem ganzen Paket von Leistungen, die sie nie werden gebrauchen können.



Im Westen viel Neues



Am 8. Dezember berichtet Hans Schiemann im „Rheinischen Merkur" in dem Artikel „Die Angst des Flüchtlings vor dem Westen" über eine Familie, die mit dem Zug aus Prag ins Ungewisse gerollt war: Angelika Walter hat viel durchgemacht an jenem 4. November 1989 – gemeinsam mit ihrem Mann Mike und den fünf Kindern. „Was kommt jetzt?" hat sie gedacht. „Die Bundesrepublik – schreit sie hurra? Oder brüllen die da jetzt ‚Ausländer raus!’ und schmeißen sogar mit Steinen?" … Es flogen keine Steine, „wir wurden mit Musik empfangen, mit Saft und Schokolade für die Kinder!" Angelika hat sich geschämt für ihre falschen Gedanken, für das Gift der Desinformation, ein Leben lang verabreicht aus dem Pharmalabor eines menschenverachtenden Systems. … Im Spannungsgefüge der entstandenen Probleme versuchen die Wohlfahrtsverbände, als verlässliche Partner für viele Hilfesuchende ausgewiesen, Aus- und Übersiedlern den Weg in unsere Gesellschaft zu ebnen. … Zurück zu den Walters. Ihr Zug, dann ein Bus rollten bis nach Meckenheim, der erste Ort in der Freiheit, den sie im Zustand zwischen Euphorie und lähmender Müdigkeit bewusst wahrnahmen. Im DRK-Schulzentrum bekamen sie ein Notquartier, ein kleines Zimmer mit Dusche auf dem Gang. „Die Leute vom DRK waren immer für uns da – Spitze! Und wenn wir uns für irgendwas bedankt haben, kam die Antwort: ‚Das ist doch selbstverständlich!’"… Gerade als Angelika Walter im Westen ihre anfänglichen Ängste abgestreift hatte, drängten Hunderte von Übersiedlern nach, und die Walters sollten weichen. In dieser Not reichten ihnen fremde Menschen, die Familie Kamper, die Hand: „Wir wollen Sie betreuen." Kampers besorgten blitzschnell Arbeit – für Mike auf dem Bau, für Angelika im Supermarkt als Putzhilfe. Und Pfarrer Stefan Gottmann vom evangelischen Kirchenzentrum Meckenheim–Merl schrieb für den Betrieb des Gemeindezentrums Arche einen neuen ‚Fahrplan´. Drei Zimmer zweigte er für die sieben ab, dort hat Angelika es ihren Lieben kuschelig gemacht. „Auf zwei Jahre Massenlager hatten wir uns eingerichtet, und nun gucken Sie sich mal unsere Villa an!" Der 9. November – er brachte Hilfe und die Bereitschaft zum Teilen.



 


Löcher im Eisernen Vorhang



Nicht vergessen sein sollen die Faktoren, die das Wunder werden ließen. Ihm gingen viele Anstrengungen und Initiativen auch anderer Nationen voraus. Bereits in den 50er Jahren prognostizierte der amerikanische Politiker Albert Wohlstetter, dass der wirtschaftlich stärkere Westen den Rüstungswettlauf gewinnen würde. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan nutzte dies als Strategie, um die Sowjetunion an den Rand des Bankrotts zu bringen. Der Kreml war schließlich nicht mehr in der Lage, seine Armeen im besetzten Afghanistan und in den europäischen Satellitenstaaten zu finanzieren.



Neuer Freiraum aber wäre ohne den langjährigen Widerstand der polnischen Solidarność, der einzigen unabhängigen Gewerkschaft im Ostblock, die sich zu einer mächtigen Bewegung entwickelte, kaum entstanden. Auch in Ungarn und der Tschechoslowakei wehte frühzeitig der Wind der Freiheit.



Bei einem Besuch Michail Gorbatschows in der Bundesrepublik wird am 13. Juni 1989 in einer vom damaligen Generalsekretär der KPdSU und Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichneten Erklärung erstmals das Recht auf Selbstbestimmung auch der Völker hinter dem Eisernen Vorhang formuliert: „Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden."



Im Juli wird unter dem Druck Gorbatschows ein Kommuniqué des Warschauer Pakts verabschiedet, in dem der Führung jedes Landes eigene Gestaltungsspielräume zugestanden werden: Der Kreml will sich nicht länger in die Angelegenheiten seiner „sozialistischen Bruderstaaten" einmischen.



Der friedliche Aufstand der Menschen in der DDR ist also der Höhepunkt einer langen Entwicklung. Er führt schließlich zu jener legendären Pressekonferenz vom 9. November. Bis heute wird spekuliert, ob die Frage „ab wann?" bestellt oder ob Schabowskis Verwirrung echt gewesen sei. Wie auch immer – nur Stunden später ist die Berliner Mauer Geschichte. Und 1989 wird ewig als das Jahr gelten, in dem der Kalte Krieg endete, der Eiserne Vorhang fiel und der Alte Kontinent sein Gesicht veränderte.



Axel Springer hatte Recht behalten. Der Hamburger Verleger, der vor 50 Jahren sein Verlagshaus in Berlin genau dorthin baute, wo die tragischen Realitäten der Teilung Deutschlands zum Greifen nah waren, hatte an seiner Vision von der deutschen Einheit in Freiheit bis zu seinem Tode festgehalten.



 

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016