Weltweit in aller Munde

01. Januar 1900 | von

Der gewöhnliche Mensch lebt heute leichter, bequemer und sicherer als früher der Mächtigste. Was schert es ihn, daß er nicht reicher ist als andere, wenn die Welt es ist und ihm Straßen, Eisenbahnen, Hotels, Telegraph, körperliche Sicherheit und Aspirin zur Verfügung stellt. So schrieb der spanische Philosoph José Ortega Y Gasset in seinem Werk Aufstand der Massen. Zu diesem Zeitpunkt war Aspirin noch nicht einmal 35 Jahre alt und nur ein Bruchteil der Wirkungsweise der Acetylsalicilsäure bekannt.
Für uns streßgeplagte Zivilisationsmenschen ist es heute selbstverständlich, daß wir nach Aspirin oder einem anderen acetylsalicilsäurehaltigen Medikament greifen, wenn uns wieder einmal der Kopfschmerz plagt. Der kleine Helfer ist längst zum mehr oder weniger notwendigen Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden. Es gibt wohl kaum ein Arzneimittel, das einen so hohen Bekanntheitsgrad hat wie Aspirin. Und es gibt kein weiteres Medikament, das so häufig gegen Beschwerden unterschiedlichster Art zum Einsatz kommt. In den USA ist der Satz Take an Aspirin zu einem geflügelten Wort geworden.

Jahrhundertpharmakon. Das Aspirin ist ein Jahrhundertpharmakon im wörtlichen Sinne. Denn 1997 beziehungsweise 1999 wird Aspirin tatsächlich einhundert Jahre alt. Es gibt eine einfache Erklärung für diese beiden Daten; einmal die Geburtsstunde und zum andern die Taufe. Im Oktober 1897 beschrieb der junge Chemiker Felix Hoffmann von den Pharmakologischen Laboratorien der Farbenfabriken Bayer und Co in Elberfeld, daß es ihm gelungen war, Acetylsalicilsäure in chemisch reiner und haltbarer Form herzustellen, die Geburtsstunde.
Im Februar 1899 wurde Aspirin als Warenzeichen angemeldet und in die Warenzeichenkontrolle des Kaiserlichen Patentamtes Berlin eingetragen. Das Produkt hatte einen Namen bekommen. Bereits ein Jahr später wurde es in den USA patentiert, und im gleichen Jahr erfolgte die internationale Registrierung. Der Siegeszug um die Welt hatte begonnen.

Ein Wirkstoff aus der Natur. Vorläufer der Acetylsalicilsäure war die Salicilsäure, gewonnen aus der Weidenrinde, die erst 1928 als Salicin und etwas später als Salicilsäure, ein weißes Pulver, extrahiert werden konnte. Es handelte sich um eine ziemlich bitter schmeckende Substanz, in konzentrierter Form kaum genießbar. Außerdem reizte sie bei der Einnahme die Schleimhäute des Verdauungstraktes, was dort schon nach kurzer Einnahmedauer zu erheblichen Verätzungen führte.
Die Grundsubstanz ist bereits über 2000 Jahre bekannt. Für Pflanzen jedweder Art ist Salicilsäure eine lebenswichtige Substanz: Sie bildet eine der wirksamsten Abwehrkräfte im Kampf gegen schmarotzende Pilze und Fäulniserreger.
Die antibakteriellen und fäulnishemmenden Eigenschaften der Salicilsäure haben sich die Menschen schon früh zu eigen gemacht als Konservierungsmittel. Die schmerzstillende und fiebersenkende Wirkung kannte man bereits in der Antike. Man nahm die Substanz in Form von Weidensud (Hippokrates 460-377 v. Ch.) ein.
Im Mittelalter wurde der Weidensud gegen Schmerzen und Fieber so häufig angewandt, so daß das Pflücken und Schälen von Blättern und Rinden des Weidenbaumes verboten werden mußte, weil aus den Weidenzweigen die unersetzlichen Körbe als Transportmittel geflochten wurden. Und so geriet der Weidenrindenextrakt trotz seiner Wirksamkeit in Vergessenheit. Erst als aufgrund der sogenannten Kontinentalsperre Napoleons 1806 schlagartig kein Chinin mehr aus Peru eingeführt werden konnte, besann man sich auf die Heilwirkung der Weidenrinde.

Allrounder unter den Arzneien. Über 60 Jahre blieb Aspirin ein Schmerzmittel für Alltagsbeschwerden wie Kopfschmerzen, Kater und fieberhaften Erkrankungen. Es wurde eingesetzt, ohne daß man genau wußte, was dieser Wirkstoff im Körper bewirken konnte. Die Hauptsache war, daß eine Besserung im Gesundheitszustand des Kranken eintrat.

Gegen Herzinfarkt. Durch Forschungen konnte man den Einfluß der Acetylsalicilsäure auf die Blutgerinnung feststellen. Schlaganfall, Herzinfarkt oder eine Thrombose entstehen, wenn bestimmte Bestandteile des Blutes zusammenkleben und so einen Blutklumpen bilden, der wiederum Blutgefäße verstopft. Acetylsalicilsäure verhindert das Verklumpen der Blutblättchen.
Darüber hinaus wirkt Acetylsalicilsäure entzündungshemmend. Sie läßt sich wirkungsvoll einsetzen bei Venenentzündungen, bei Rheuma und anderen chronisch entzündlichen Erkrankungen.
Nach neueren Untersuchungen scheint Acetylsalicilsäure auch an der Bildung einer Substanz im Körper beteiligt zu sein, die durch Einwirkung der weißen Blutkörperchen umgewandelt wird und dann auf Krebszellen eine wachstumshemmende Wirkung haben soll.
Außerdem gibt es Hinweise, daß Acetylsalicilsäure die Immunabwehr des Körpers stärkt, daß sie schmerzerregende und fieberauslösende Hormone blockiert, bei Gürtelrose und allen Herpes- Zoster-Schmerzen hilft und möglicherweise Zahnfleischschwund bremst. Lange Zeit standen Mediziner diesem Allround-Mittel mit Skepsis gegenüber. Tatsachen aber lassen sich nicht leugnen, vor allem dann nicht, wenn das Medikament an einigen hunderttausend Menschen erfolgreich getestet wurde.

Bei Einnahme beachten. Da Aspirin und andere acetylsalicilsäurehaltigen Präparate in der Apotheke frei verkäuflich sind, suggeriert das bei vielen Menschen, sie könnten sie ohne Bedenken einnehmen. Doch es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung und eine Reihe von Gegenanzeigen. Auf den meisten Medikamentenpackungen findet sich die Aufschrift kühl und trocken lagern. Das gilt besonders für Acetylsalicilsäure. Die Substanz wird schon bei normaler Luftfeuchtigkeit nach kurzer Zeit wirkungslos. Deshalb wird Acetylsalicilsäure am häufigsten in Form von Tabletten oder Brausetabletten angeboten.

Brausetabletten sind wesentlich besser verträglich. Eine bereits im Wasser aufgelöste Substanz passiert übrigens schneller den Magen und kann im Dünndarm schneller ins Blut gelangen und zur Wirkung kommen, als eine Tablette. Außerdem sind in den relativ großen Brausetabletten mehr säureausgleichende Stoffe beigemischt. Dadurch wird die Aggressivität der Substanz gemildert.
Nimmt man dagegen eine herkömmliche Tablette ein, sollte man wissen, daß eine größere Menge Flüssigkeit unbedingt erforderlich ist. Dadurch wird der Wirkstoff verdünnt und schont den Magen. Denn Magenschleimhautprobleme stehen bei den Nebenwirkungen an erster Stelle.

Rekordträchtige Geschichte. Vermutlich wird sich das Wirkungsspektrum der Acetylsalicilsäure auf Bereiche ausdehnen, von denen wir heute noch keine Ahnung haben. Die faszinierende und rekordträchtige Geschichte des Aspirins ist noch längst nicht zu Ende geschrieben.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016