Wenn Erziehung Antworten schuldig bleibt

01. Januar 1900 | von

Ein Blick in die Aktualität gesellschaftlichen Lebens zeigt: Die Destabilisierung ethischen Wertebewußtseins und die Verdunstung religiösen Lebens haben zu psychisch-geistigen Blockierungen des persönlichen wie sozialen Herzschlags der Menschen geführt, zu kontrasozialem Egoismus, hedonistisch motiviertem Materialismus, Konsum- und Verschwendungsmentalität, subjektiver Auswahl-Ethik, Anwachsen psychischer Nöte und Krankheiten, Angst vor dem Leben, Abtauchen in die Illusion von Scheinwelten, deutlich steigender Kriminalität und vor allem Flucht in eine Pseudoreligiosität.

Wertekrise. Als gemeinsame Wurzel machen Soziologen die religiöse Wertekrise, verbunden mit einem Mangel an existentiell tragfähiger Sinnorientierung des Lebens aus. Dies bedroht den gesunden sozialen Kreislauf unserer Gesellschaft. Die besten Gesetze, die großartigste Verfassung und der härteste Kampf gegen die Kriminalität, so die Soziologen Scheuch, nützen nichts, wenn grundlegende ethische Werte nicht mehr akzeptiert werden. Eine Analyse der Menschheitsgeschichte zeigt: Wann immer Menschen ethische Werte mißachteten und Gott aus dem Denken verdrängten, begannen Dekadenzerscheinungen vor allem im sozialen Zusammenleben. Genau diese Symptomatik haben wir heute. Es ist fast immer der ethisch-religiöse Zustand eines Staates, welcher solche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen hervorbringt. Daran ist wesentlich auch die Ausrichtung der Erziehung in der betreffenden Gesellschaft mitbeteiligt. Wo diese sich von Gott abzuwenden beginnt, gewinnt das Böse die Oberhand.

Oberstes Bildungsziel verfehlt. Weite Teile unserer Gesellschaft haben sich von Gott verabschiedet. Wie kam das? Haben wir es versäumt, die junge Generation mit dem Sinn ihres Lebens vertraut zu machen? Haben wir vergessen, von Gott zu sprechen? Wenn ja, dann hat Erziehung in dieser zentralen Aufgabe versagt. In der heutigen wissenschaftlichen Pädagogik jedenfalls ist eine einflußreiche Ausrichtung auf Gott kaum erkennbar. Und daraus entsteht ein erziehlicher Multiplikationseffekt, den Alexander Solschenizyn so auf den Punkt bringt: Unsere Gesellschaft ist ethisch nicht mehr gesund. Die Menschen haben Gott vergessen. Daher kommt alles Unglück.
Erziehung hatte über Jahrtausende hinweg die Ausrichtung auf Gott nicht vergessen. Heute jedoch gehört es zu den schwierigsten und umstrittensten konzeptionellen Ansätzen, in der Erziehung über Gott und eine Wertorientierung zu sprechen, die er uns ans Herz legte. Da steht zum Beispiel in der Verfassung des Freistaates Bayern: Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott...und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne. Aber schon dieser Aussage stehen viele Menschen heute mit Verständnislosigkeit gegenüber. Ihr Gegenargument ist die weltanschauliche Pluralität und das Recht, selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Gott braucht darin nicht vorzukommen, auch nicht im Leben ihrer Kinder.

Existentielle Fragen. Wer in die Erziehung heute Grundsätze einbringen möchte, die uns Christus ans Herz gelegt und als normativ für das Gelingen menschlichen Lebens herausgestellt hat, erfährt subtile bis massive Ausgrenzung. Gott ist in der Erziehung offensichtlich zu einer Worthülse geworden, die man zwar noch gebraucht, aber nicht mehr ernst zu nehmen glaubt.
Vor kurzem sprach mich ein Student an: Wissen Sie, ich habe nur ein einziges Leben, und ich möchte es so gestalten, daß es einen letztgültigen Sinn hat. Wie froh wäre ich, wenn mir endlich jemand klar und deutlich diesen Sinn sagen würde! Eine wichtige Antwort auf eine solche Frage ist die Sinnvollendung des Menschen über den Tod hinaus bei Gott. Mir hat noch niemand eine Alternative aufgezeigt, die mich in derselben Tiefe und Totalität zufriedengestellt hätte. Manche Lösungsmöglichkeiten heutiger philosophischer, ideologischer und auch pädagogischer Systeme richten sich ausschließlich auf dieses Leben. Dabei weiß doch jeder: der Tod ist todsicher. Auf die Frage nach dem Sinn dieser Unabänderlichkeit menschlichen Daseins wissen diese Leute jedoch keine befriedigende Antwort. Andere wiederum denken alles logisch und konsequent ohne Gott zu Ende. Sie landen entweder in einem vagen New-Age-Mythos, in einer frustrierenden Wiedergeburtskausalität oder im existentiellen Zynismus.

Hunger nach Sinnfindung.Oft stelle ich im Gespräch mit jungen Menschen fest, daß man ihnen heute auf die alles entscheidende Sinnfrage des Lebens weitgehend die Antwort schuldig bleibt. Sie werden selbst im Religionsunterricht damit alleingelassen und erfahren wenig christlich überzeugende Worte oder gelebte Vorbildleistungen. In vielen Diskussionen mit Studierenden wurde mir bewußt, wie religiös verunsichert heute junge Menschen an die Universität kommen. Sie suchen ehrlichen Herzens Antwort auf existentielle Fragen ihres persönlichen und beruflichen Lebens. Und gerade dieser Hunger nach Sinnfindung junger Menschen hat mich immer wieder überzeugt, wie wichtig es ist, seinen Glauben öffentlich zu bekennen. Inzwischen habe ich feststellen müssen, daß man hierfür auch eine Portion Mut braucht und das Risiko eingeht, als rückständig, unwissenschaftlich oder fundamentalistisch eingestuft zu werden. Doch ich habe immer wieder die frohe Erfahrung gemacht: Mutige Worte überzeugen. Nur im persönlichen Bekenntnis erringt man die Achtung junger Menschen und findet bei ihnen fruchtbaren Boden.

Keine Mehrheit für Gott. Über etwas zu sprechen, worüber die meisten der gleichen Meinung sind, ist nicht schwierig. Es bringt keine Probleme mit sich. Alle stimmen zu. Der Widerspruch bleibt aus. Wer sich dem Mehrheitstrend anpaßt, erregt keinen Anstoß. Da plätschert das Leben angenehm dahin. Nicht so, wenn die Mehrheit anderer Meinung ist.
Von Gott zu sprechen, gilt in der deutschen Gesellschaft des Jahres 1999 mehrheitlich als anachronistisch und trendhemmend.

Es ist vielfach unerwünscht. Die vorrangigen Wichtigkeiten laufen anders. Umfragen des Emnid-Instituts besagen, daß Gott in Deutschland die Mehrheit verloren hat. Erstmals glauben weniger als die Hälfte der 81,5 Millionen Deutschen an Gott, nämlich 45 Prozent. Vor vier Jahren war es noch jeder zweite. Den Umfragen zufolge nimmt die Bedeutung der Frage nach Gott in Ost und West gleichermaßen ab. Zwar glaubt in den alten Bundesländern noch knapp mehr als die Hälfte (51 Prozent) an Gott, während es in den neuen nur jeder fünfte tut. Der Abwärtstrend ist aber im Westen (minus 5 Prozent) wie im Osten (minus 7 Prozent) gleich ausgeprägt.
Die Zahl der Menschen, die Gott als nicht existent erklären, stieg in Gesamtdeutschland von 20 auf 28 Prozent, die der Ungewissen fiel leicht von 29 auf 27 Prozent. In Schlagzeilen verkündete vor kurzen die Presse: Der Glaube an Gott hat in Deutschland die Mehrheit verloren. Es hat keinen Sinn, etwas zu beschönigen. Eine Generation wächst heran, die mit Gott nichts mehr anzufangen weiß. Dies zeigt sich daran, daß einer Zweitdrittelmehrheit der 18- bis 30jährigen im Westen und einer noch größeren Zahl im Osten Gott nichts bedeutet. Und damit scheint auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für die Mehrheit der Menschen revisionsbedürftig zu sein, dessen mit der fundamentalen Aussage beginnt: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen...hat das deutsche Volk...dieses Grundgesetz beschlossen.

Erziehung für und mit Gott. Transzendierendes Denken und Fühlen gehören zum Wesen des Menschen. Daher stellen wir uns auch die Frage nach dem Sinn unseres Lebens: Was ist das Ziel meiner Lebensbewältigung? Wofür lebe ich? Ich kenne keinen Menschen, der nicht in sich die Sehnsucht verspürt, unzerstörbar zu sein und sich nicht mit dem Tod im Nichts aufzulösen? Die Erfahrung zeigt, daß Fragen der Letztzielorientierung für die Bewältigung des gesamten Lebens grundlegend und richtungsweisend sind, also auch für das Nachdenken über die Frage, wie es nach dem Tod weitergeht.
Wenn Erziehung Hilfeleistung zur Lebensbewältigung sein will, muß sie auch über den Sinn des menschlichen Lebens Bescheid wissen.

Der Lebensvollzug des Menschen im Diesseits ist heute bis ins Detail erforscht.Über die Sinnfrage des Todes und des Letztzieles jedoch herrscht tabuisiertes Schweigen. Viele, welche heute die junge Generation erziehen, klammern das Ende des Lebens aus ihrem beruflichen Denken. Das ist nicht unsere Sache, verteidigen sie sich. Gleichzeitig aber stellen sie jungen Menschen Selbstverwirklichung in der Emanzipation als Lebenssinn vor. Aber müßten sie sich nicht fragen: Wieso tun wir unser Bestes, um Emanzipation voranzutreiben, wenn wir gleichzeitig keine Antwort auf lebensentscheidende Fragen geben wollen (oder können)? Da ist doch das Problem: Welchen Sinn sollen eigentlich Befreiung und Selbstverwirklichung haben, wenn diese früher oder später im totalen Zwang des Sterbenmüssens und nach der Vorstellung emanzipatorischer Ideologie im Vernichtetwerden durch den Tod enden?

Ungereimtheit modernen Denkens. Es kommt hinzu, daß keiner von uns es schaffen wird, sich so total zu emanzipieren, daß er das Ergebnis als vollkommen bezeichnen könnte. Dazu sind wir alle von unserer Genetik und Umweltbeeinflußung her einfach nicht fähig. Es fehlen die heute so hochgejubelten Maßstäbe: Begabung, Schönheit, Geld, Macht, Chancengleichheit... Ehrlich, diese Ungereimtheit modernen Denkens auch in der Erziehung bleibt mir unbegreiflich. Ich jedenfalls empfinde es als absolut widersinnig, mich ein Leben lang für meine Emanzipation oder Selbstverwirklichung abzumühen, um schließlich in der Frustration des Umsonst zu landen. Die letzten Worte eines Parteiführers der Nationalsozialisten vor seiner Hinrichtung waren: Hauptsache, ich habe zwölf Jahre angenehm gelebt. Welch ein Trugschluß....
Eigentlich wollen alle Menschen spüren und erfahren, daß ihr persönliches Leben einen Sinn hat, daß es sinnbestimmt ist. Und sie möchten in einer Sinnvollendung alles das erreichen, wonach sie sich in ihrem Herzen sehnen.
Aber macht es einen Lebenssinn, Jahre und Jahrzehnte lang sich in der Jagd nach einem angenehmen Leben (Machterfolg, Bankkonten, Sexvariationen, Weltreisen, Schönheit und Konsum) zu verschleißen?

Nur um möglichst viele Erlebnisse gehabt zu haben, die dann eines Tages aus der Erinnerung erlöschen, weil die Gedächtnismasse des Gehirns sich aufgelöst hat.
Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Menschheit. Milliarden Menschen haben vor uns gelebt. Inzwischen sind sie alle tot. Wofür gab es das Leben dieser Milliarden Menschen? Welches war der Sinn ihres Lebens? Macht? Gold? Sex? Schönheit? Besitzanhäufung? Konsumvergnügen? Sie haben heute doch alle nichts mehr davon. Sollte wirklich darin der Lebenssinn gelegen haben? Was wäre dann die Welt und mit ihr das Leben der Menschen für ein absurdes und irres Theater!

Impulse für ein sinnvolles Leben. Wenn Erziehung bestmögliche Hilfeleistung für den anvertrauten Menschen ist, umfaßt diese Hilfeleistung zunächst eine Grundorientierung über das Woher, das Warum und das Wohin des Menschen. Die Antwort auf diese Fragen machen den Sinn des Lebens aus. Genau hier ist religiöse Erziehung gefragt. Selbstverständlich bedeutet erziehliche Fürsorge zunächst einmal bestmögliche Ausstattung des Menschen mit Fähigkeiten der Lebensbewältigung im persönlich-individuellen, sozialen und natürlich-kulturellen Lebensraum. Aber darin darf sich Erziehung nicht erschöpfen, wie es heute vielfach geschieht. Zum Leben gehören Schwäche, Krankheit, Leid, Behinderung und Tod. Auch diese müssen von den Menschen ganz persönlich bewältigt werden. Dies kann ihnen nur zufriedenstellend gelingen, wenn ihnen ein tieferer religiöser Sinnhintergrund einsichtig gemacht wird. Ich kenne keine Philosophie oder Ideologie, die dafür eine schlüssigere Wahrheit anbietet als der christliche Glaube, daß die Schöpfung des Menschen und seine Sinnvollendung ausschließlich in Gott gründen. Dieser letztentscheidenden Sinnfrage darf Erziehung nicht ausweichen.

Orientieren wir daher erzieherisches Handeln nicht an Gott und stellen außerdem noch religiöse Erziehung auf das Abstellgeleise, dann lassen wir die uns anvertrauten Menschen ohne entscheidende Impulse auf ihrer Suche nach dem Sinn ihres Lebens.

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016