Wenn Glaube in Bewegung kommt

27. Mai 2014 | von

Alle sieben Jahre machen sich Pilger aus ganz Europa auf den Weg zur Heiligtumsfahrt nach Aachen. Im dortigen Dom, der ehemaligen Pfalzkapelle Karls des Großen, können dann zehn Tage lang Reliquien aus der Zeit Jesu verehrt werden. 2014 steht die Wallfahrt unter dem Motto „Glaube in Bewegung“.



Das Pilgern, das Wallfahren zu Heiligtümern und kirchlichen Großereignissen, schien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Thema mehr zu sein. Als Papst Paul VI.

für 1975 ein „Heiliges Jahr“ ausrufen lassen wollte, rieten ihm viele Stimmen davon ab. So etwas sei nicht mehr zeitgemäß und würde kaum zu einem Erfolg werden. Doch der Papst ließ sich nicht beirren. Am Ende des „Heiligen Jahres“ konnte Paul VI. den Kritikern die stolze Zahl von fast zehn Millionen Pilgern, die nach Rom gekommen waren, entgegenhalten.



WALLFAHREN ZU FUSS

In den letzten Jahrzehnten hat es einen regelrechten Pilgerboom gegeben. Vor allem der Jakobsweg nach Santiago de Compostela in Spanien spricht viele Katholiken an. Aber auch für konfessionell nicht gebundene Menschen, die eine religiöse Erfahrung suchen, besitzt die Fußwallfahrt zum Grab des Apostels Jakobus eine große Anziehungskraft. „Die Menschen spüren in einer übervollen Wohlstandsgesellschaft, dass ihnen etwas fehlt“, ist sich Guido Meier, Professor für Religionspädagogik an der RWTH in Aachen, sicher.

Knapp ein halbes Jahr vor der Heiligtumsfahrt in Aachen, die vom 20. bis zum 29. Juni dieses Jahres stattfindet, veranstaltete die Hochschule gemeinsam mit den Lokalzeitungen der Domstadt eine „Kinderuni“. Mit einer ganz speziellen „Vorlesung“ wollte man junge Menschen über das Pilgerereignis informieren. Über das Interesse an dem Angebot der „Uni“ waren die Verantwortlichen überrascht. Im großen Hörsaal der Hochschule hatte sich eine beachtliche Schar von Kindern eingefunden, die den Ausführungen des Professors aufmerksam lauschte und viele Fragen zu stellen wusste.



DOM UND SCHATZKAMMER

Bereits zu Zeiten Karls des Großen zog der Aachener Reliquienschatz viele Gläubige an. Seit 1349 machen sich Pilger aus vielen Ländern alle sieben Jahre zur großen Heiligtumsfahrt, der „Aachenfahrt“ (Pelegrinatio Aquensis), in die Stadt Karls des Großen auf. Die Kaiserstadt darf sich rühmen, in ihrem imposanten Dom und dessen Schatzkammer den reichsten Kirchenschatz nördlich der Alpen zu besitzen: den Karls- und Marienschrein, beide aus staufischer Zeit, die goldene Heinrichskanzel, die Pala d`Oro, eine prachtvolle Altarverkleidung, den imposanten Barbarossaleuchter im Oktogon des Doms, die berühmte Karlsbüste und das kostbare Lotharkreuz. Aber es sind vor allem bedeutende Reliquien der Christenheit, die zahlreiche Wallfahrer nach Aachen führen.



VIER RELIQUIEN DER ERLÖSUNG

Die fränkischen Reichsannalen geben darüber Auskunft, dass Kaiser Karl der Große um das Jahr 799 wertvolle Reliquien aus Jerusalem als Geschenk erhalten hatte. Es sind Stoffe, in denen Zeugnisse aus biblischer Zeit gesehen werden: das Kleid Marias aus der Nacht, in der Jesus geboren wurde; die Windeln Jesu, mit denen Maria ihren Sohn bekleidete; das Tuch, in dem man den Kopf des heiligen Johannes des Täufers nach der Enthauptung verwahrte; das Lendentuch Jesu, das er am Kreuz getragen haben soll. Die vier Aachener Reliquien werden als Zeichen der Erlösung des Menschengeschlechts durch Jesus Christus gesehen. Sie weisen auf das irdische Leben des Herrn hin, von der Geburt bis zum Tod.

Zur Botschaft der Heiligtümer sagte Klaus Hemmerle, der frühere Bischof von Aachen: „Das Wort, das Fleisch wird, nimmt Tuchfühlung mit den Menschen, und es gibt die Sehnsucht, in Tuchfühlung mit dem „Einmal-für-alle-mal“ des Kommens Jesu zu treten. Diese Tuchfühlung, dieses Angerührtwerden von der Nähe Gottes zu unserem Leben und in unserem Leben, wie es ist, drängt danach, dass wir Tuchfühlung nehmen mit dem Herrn im Nächsten, im Geringsten, im Miteinander.“

Für viele Christen ist die Heiligtumsfahrt seit jeher die Gelegenheit, die Gemeinschaft der Gläubigen zu erleben und den Glauben neu zu erspüren.



AACHEN UND KORNELIMÜNSTER

Die Heiligtümer werden in dem zwischen 1220 und 1239 geschaffenen goldenen Marienschrein verwahrt, der neben dem berühmten Karlsschrein steht, der die Gebeine des 814 in Aachen verstorbenen und 1165 heiliggesprochenen Kaisers birgt. Im Jahr einer Heiligtumsfahrt werden die Reliquien für den Zeitraum von zehn Tagen dem Marienschrein entnommen, von den Turmgalerien des Münsters präsentiert und in der Chorhalle des Doms zur Verehrung ausgestellt.

Zu dem Reliquienschatz im Aachener Dom kommen die Heiligtümer im benachbarten Kornelimünster hinzu, die Karl der Große der ehemaligen Reichsabtei übersandt hatte: das Schürztuch, mit dem Christus den Jüngern beim Letzten Abendmahl die Füße abgetrocknet hat; das Schweißtuch, das Christi Gesicht während der Grabesruhe bedeckte; das Grabtuch Christi. Diese Reliquien werden den Gläubigen zeitgleich mit der in Aachen stattfindenden Heiligtumsfahrt zur Verehrung gezeigt.



DÜRER UND HAKENKREUZ

Der reiche Reliquienschatz, den Aachen besitzt, machte die Stadt zum herausragenden Ziel europäischer Pilgerfahrten. Neben Rom und Santiago de Compostela wurde die Stadt Karls des Großen im Mittelalter zur wichtigsten Wallfahrtsstätte des christlichen Abendlandes.

Als Albrecht Dürer anlässlich der Krönung Karls V. im Jahr 1520 in Aachen weilte, war er dermaßen von der Schönheit der Bauwerke, Kunstschätze und Reliquien begeistert, dass er in seinem Tagebuch schrieb: „Da hab ich gesehen alle herrliche Köstlichkeit, desgleichen keiner, der bei uns lebt, köstlicher Ding gesehen hat.“ In der Reformationszeit ging die Bedeutung der Aachenfahrt zurück, doch schon Anfang des 17. Jahrhunderts fand sie eine imponierende Belebung durch die Gegenreformation. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, während der napoleonischen Wirren und in den beiden Weltkriegen unterblieben die Pilgerfahrten. Ein beeindruckendes Zeugnis für den christlichen Glauben gab die Heiligtumsfahrt des Jahres 1937, als trotz massiver Störungen durch die Nationalsozialisten an die 800.000 Pilger nach Aachen kamen. Sie ging in die Geschichte als die Wallfahrt des „stummen Protests“ unter dem Hakenkreuz ein.



AUF DEM WEG ZU GOTT

Das Wallfahrtsmotto „Glaube in Bewegung“ der Heiligtumsfahrt 2014 bezieht sich auf den Bibelspruch „Zieh in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Mit diesen Worten aus dem Buch Genesis wendet sich Gott an Abraham und fordert ihn auf, in das Land der Verheißung aufzubrechen. Für den Bischof der Domstadt, Dr. Heinrich Mussinghoff, heißt dies: „Wenn die Menschen sich als Pilger wieder auf den Weg zu den Aachener Reliquien machen, machen sie sich dabei auch neu auf den Weg zu Gott.“ Der Bischof lädt dazu ein: „Pilgern Sie nach Aachen und erleben Sie Glaube in Bewegung!“

Zuletzt aktualisiert: 06. Oktober 2016