Antonius sieht den Herrn

11. Juni 2017 | von

Der Verfasser der Assidua beginnt den zweiten Teil seines Werkes, der sich hauptsächlich mit den Wundern beschäftigt, mit der Schilderung der Todesumstände des heiligen Antonius.

Im vorhergehenden Teil unserer Geschichte, den wir dank der Gnade und Tugend des Allerhöchsten zu einem Ende bringen konnten, haben wir mit demütiger Verehrung über das Leben und Wirken unseres heiligen Paters und Mitbruders Antonius erzählt – freilich nicht ohne die Fakten hinsichtlich ihrer Wahrheit geprüft zu haben. Im nun folgenden Teil glaubten wir, die Wunder sammeln zu müssen, die der Gott der Herrlichkeit im Umfeld des Heiligen und durch sein Wirken vom Tag seines Todes an und darüber hinaus geschehen ließ. Diese wurden uns durch Erzählungen vertrauenswürdiger Menschen überliefert.
Aber da es auch uns nicht gegeben ist, alles zu wissen, und auch um die Leser nicht mit einer Fülle von Wundern zu langweilen, nehmen wir uns vor, nur die uns am wichtigsten erscheinenden niederzuschreiben, um auf diese Weise die Verehrung der Gläubigen zum Lob Gottes anzuregen. Wer zur Erbauung des Glaubens noch weitere anfügen möge, der hat dazu immer die Möglichkeit.

Der Tod des seligen Antonius
Im Jahr des Herrn 1231, in der vierten Indiktion [Teil eines 15-jährigen Zyklus zur Jahreszählung; von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters in Gebrauch], am 13. Tag des Monats Juni, am 6. Tag der Woche, da unternahm der selige Pater und unser Mitbruder Antonius, der von der iberischen Halbinsel stammte, in der Stadt Padua, in der der Höchste durch sein Wirken seinen Namen lobpries, die Reise aller Sterblichen. Glückselig gelangte er zum Sitz der himmlischen Geister.
Er hatte vorher die Menschenmengen zurückgelassen, die aus allen Gegenden herbei eilten, um ihn zu sehen und zu hören, und zog sich von der Stadt Padua nach Camposampiero zurück, um dort Ruhe zu finden und sich nur noch mit Gott zu beschäftigen. Er wollte sich mit den Tränen der Hingabe waschen und sich mit den Borsten der heiligen Meditation reinigen, falls noch etwas Staub – wie es ja gewöhnlich geschieht – durch den Kontakt mit den Leuten aus der Welt an ihm haften geblieben war.

Zusammenbruch beim Essen
Eines Tages, etwa zur Essenszeit, als er nach dem Ruf der Glocke von der Zelle herunter gekommen war, die man ihm auf dem Nussbaum eingerichtet hatte, setzte er sich wie üblich zu den anderen Brüdern an den Tisch. Da legte sich die Hand des Herrn auf ihn und plötzlich verließen ihn alle Kräfte. Als sich diese Krankheit nach und nach verschlimmerte, erhob sich der Heilige mit Hilfe der Brüder vom Tisch. Es gelang ihm aber nicht, den erschlafften Körper aufrecht zu halten und er brach auf einer Pritsche zusammen. 
Als Antonius, der Diener Gottes, spürte, dass sich das Ende seines Körpers näherte, da rief er Rüdiger (Ruggero), einen seinen Brüder und Gefährten, zu sich und sagte: „Bruder, wenn du einverstanden bist, dann möchte ich nach Padua gehen, an den Ort der heiligen Maria, um den Brüdern hier nicht weiter zur Last zu fallen.“ Rüdiger ließ sich davon überzeugen. Und nachdem man einen Karren angespannt hatte, wurde der heilige Pater darauf gelegt, auch wenn sich andere Brüder allzu sehr dagegen wehrten, ihn anderswohin bringen zu lassen. Da sie aber sahen, dass dies der Wunsch des seligen Antonius war, gaben sie schließlich nach, wenn auch nur ungern. 

Zwischenstation Arcella
Der Kranke näherte sich schon der Stadt, als er auf Bruder Vinoto traf, der gerade unterwegs war, um den Mann Gottes zu besuchen. Als er die Schwere seiner Krankheit sah, bat er ihn, doch vom geplanten Weg abzuweichen und in das Haus der Brüder in Arcella zu gehen. In der Tat lebten dort einige Brüder beim Kloster der armen Frauen, um diese gemäß den Gewohnheiten des Ordens geistlich zu begleiten. Jener Bruder fügte hinzu, dass wohl ein großer Tumult und eine nicht kleine Verwirrung im Franziskanerkloster entstehen würde, besonders weil Antonius beim Betreten der Stadt dem lästigen Herbeieilen der Leute ausgesetzt sei. Als er diese Gründe hörte, willigte der Diener Gottes, Antonius, den Vorschlägen des Bittenden ein und bog, dessen Willen also folgend, nach Arcella ab.
Als er sich dann dort bei den Brüdern befand, wurde die Hand des Herrn auf ihm immer schwerer. Und als sich das Leiden mächtig verschlimmerte, löste das eine große Angst aus. Nach kurzem Ruhen und nachdem er gebeichtet und die Lossprechung erhalten hatte, begann er, das Loblied der glorreichen Jungfrau zu singen: Du glorreiche Jungfrau,... 
Wie er damit fertig war, hob er plötzlich die Augen zum Himmel empor und mit einem ekstatischen Blick schaute er lange vor sich hin. Als der Bruder, der ihn stützte, fragte, was er denn sehen würde, da antwortete er: „Ich sehe meinen Herrn.“

Bewegende Sterbestunde
Die anwesenden Brüder, die spürten, dass sich sein seliger Hinübergang näherte, beschlossen, dem Heiligen die Krankensalbung zu spenden. Als der Bruder, der wie üblich das heilige Öl trug, sich ihm näherte, schaute ihn der selige Antonius an und sprach: „Es ist nicht nötig, Bruder, dass du mir das tust; ich habe nämlich diese Ölung schon in mir. Und dennoch ist es eine gute Sache und sie gefällt mir sehr.“
Er streckte die Hände aus und legte dann die Handflächen aufeinander und sang gemeinsam mit den Brüdern die Bußpsalmen. So hielt er noch etwa eine halbe Stunde durch, bis schließlich die heilige Seele, befreit vom Gefängnis des Fleisches, in die Unermesslichkeit des Lichtes aufgenommen wurde.
Sein Körper sah so aus, als ob er schlief. Seine Hände, die ganz weiß geworden waren, überragten die Schönheit der vorherigen Farbe. Und die anderen Glieder seines Körpers waren frei von jeder Totenstarre und konnten ganz frei bewegt werden, wenn man sie berührte.

Fürsprecher bei Gott
O wahrhaft heiliger Diener des Allerhöchsten, der das Privileg genoss, den Herrn zu sehen, während er noch in diesem Leben weilte! O heiligste Seele, die dennoch tausend Mal vom Wunsch des Martyriums und dem Schwert des Mitleids durchbohrt wurde, auch wenn sie nicht durch die Grausamkeiten eines Verfolgers zerrissen wurde! O ehrwürdiger Vater, nimm all die wohlgefällig an, die dich mit dem Opfer der Hingabe verehren und stehe uns mit deiner Fürbitte bei, die wir nicht in der Lage sind, uns dem Angesicht Gottes zu nähern. Amen. 
 

Zuletzt aktualisiert: 18. Juni 2017
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